Alles zu Wolf Biermann

Spiegel 5/1992, 27.01.1992, S. 180-185


 

KULTUR

 

Tiefer als unter die Haut

Wolf Biermann über Schweinehunde, halbe Helden, Intimitäten -
und andere Funde aus seinen Stasi-Akten

 

Stasi-Opfer Biermann 1):  "Alle meine 70 leibeigenen Spitzel, über 100 Ordner, 40 000 Blatt."

Am Ende seiner Reise durch Deutschland kommt Heinrich Heine im "Wintermärchen" hoch nach Hamburg. Er besucht dort seine alte Mutter und gerät dann unter die Freudenmädchen auf die schönere, die schiefe Ebene. Hamburgs dralle Schutzgöttin Hammonia krallt sich auf dem Kiez den exilierten Poeten aus Paris. Die breithüftige Tochter der Schellfischkönigin nimmt unseren deutschesten Dichter mit rauf auf ihre Bude und gewährt ihm, weil er so affenscharf drauf ist, einen Blick in die Zukunft. Es geht mal wieder ekelhaft unfeuilletonistisch zu in der hohen Literatur, ungehörig fäkalisch: Die üppige Göttin der hanseatischen Fischköpfe und Pfeffersäcke gestattet ihrem erlesenen Freier einen tiefen Blick in ihren, pardon, Kackstuhl. Als Hammonia ihrem Dichter den Deckel öffnete, da verschlugen die giftigen Miasmen deutscher Zukunft dem armen Heine den Atem: "Es roch nach Blut und Kot / Und nach gehenkten Schuften. "Auch mich verführte in diesen Tagen die Neugier zu solch einem gefährlichen Wunsch, ich wagte den Blick in Heines Zukunft von damals, will sagen: in unsere stinkende Vergangenheit. Man kann nicht alles haben. Ich riskierte diesen Blick nicht auf der bunten Reeperbahn in St. Pauli und schon gar nicht mit einer lustgewaltigen Göttin im Arm. Ein kleiner, freundlicher und schwer gebeutelter Pastor aus Rostock nahm mich mit auf seine Berliner Bude in der Behrenstraße und öffnete mir den großen Aktendeckel. Ich hielt mir die Nase zu und las mit aufgerissenen Augen. Vier Tage lang saß ich im ersten Stock der Gauck-Behörde im tristen Ost-Berlin, nur ein paar Schritte neben der verödeten sowjetischen Botschaft.

Was für ein Wiedersehn! Unter den Aktendeckeln fanden sich alle, alle wieder: die halben Helden und die ganzen Schweinehunde, die fast Guten, die fast Schlechten, die stillstarken Charaktere und die großmäuligen Schwächlinge, kleine Zuträger und Großkopferte aus dem Politbüro der SED. Es wimmelte von Freunden und Feinden, Tätern und Opfern. Alte Lieben, verblaßte Kumpel. Grüß Euch, Genossen: Alle meine 70 leibeigenen Spitzel. Schaut Euch Eure Decknamen im SPIEGEL an, Ihr kennt ja Euer Gesicht hinter der Maske. Wer liest schon gern halbe Telefonbücher, keine Sorge, lieber Leser - aber eine handverlesene Auswahl soll heute in Augsteins Wochenblättchen die Ehre haben: IMV 2) "Erich", IMV "Kurt", IMV "Walter Stein", IMV "Hartmut", IMF "Ernst", IMV "Jäger", IMV "Emma Langer" alias IMV "Ilse", IMV "Heinz Malchow", IMV "Leonore", IM "Sylvia Faust", GI "Friedrich", IM "Max", GI "Wolfgang", IM "Ilse Meißner", IM "Schmatzke", IM "Karla Schneider", IM "Chef" und seine Frau "IMS "Martina", IM "Lorenz" (Guten Morgen, Herr Nachbar!), IM "Anton", IM "Alexander", IM "Heinz", IMV "Reinhard", IM "Anna", IMV "Hans Lamprecht" (Fließt in Frankfurt die Oder noch nach Norden?), IM "Tamar", KP "Proll" und KP "Kannenberg", GI "Horst Hilhelm", IM "Willi", IM "Rita", IM "Fritz", IM "Stefan Parker", IM "Otto Erle".

Als das Letzte nenne ich einen verstorbenen Dichter mit dem sinnigen IM-Decknamen "Dichter" - lieber Paule Wiens, Du hast Dich rechtzeitig abgesetzt in die Hölle, bist angenehm tot und hast es besser als die, deren Klarnamen ich für mich behalte. Wie andere Kollegen (keine Namen!) hast Du Dein Dichterleben in Sitzungen des Schriftstellerverbandes versessen, in Kommissionen und Gremien, bist auf Kongresse marschiert und hast Dich in konspirativen Wohnungen zu Deinem Führungsoffizier geschlichen wie zu einer heimlichen Geliebten. Du hast die Musen mit ihm betrogen.
Ich möchte nicht, daß eine wurmstichige Galionsfigur am DDR-Wrack (bloß keine Namen nennen!) mich wieder einen Denunzianten schimpft, nur weil ich einen besonders stinkenden Denunzianten an den Pranger stelle. Gott ja: Namen sind Schall und Rauch, und so belasse ich es bei den chiffrierten Rauchzeichen.

Im ersten Stock der Gauck-Behörde wurden für uns zwei kahle Leseräume eingerichtet. Abgestaubte Stasi-Tischchen und Bürostühle und ein Kleiderständer. Auf dem Boden türmen sich meine Akten. Vieles ist vernichtet, aber über 100 Ordner haben sich noch angefunden. Das macht bei 300 bis 350 Seiten pro Akte ungefähr 40 000 Blatt.

So saßen wir dort: Am Nebentisch schaufelt Jürgen Fuchs seelenruhig in seinem Aktenberg, er hat schon mehr Übung als wir. Nebenan Katja Havemann mit spitzen Fingern. Eva-Maria Hagen irrt durch ihr früheres Leben. Roland Jahn stochert in seiner Vergangenheit. Ab und zu ein kleiner Wutausbruch, ab und zu ein Gelächter, das so übertrieben klingt, weil der Schrecken immer mitlacht. Namen werden gerufen: Kennste den noch? Wer war damals dabei, als wir . . . vergessen! Deckname "Anton"? Das war doch gar kein Mann, das war doch die Frau von dem Schriftsteller "Karla Schneider"! Aber der wurde doch selber bespitzelt, hier steht es! - Na und, ein Agent provocateur!

Soviel Papier. Ich fand parallele Aufzeichnungen über ein und denselben Abend bei mir zu Hause in der Chausseestraße 131. Drei "Quellen": Spitzel 1, Spitzel 2 und außerdem noch das Protokoll von der Abhörwanze. Da IM 1 nicht weiß, daß IM 2 auch zur Firma gehört, kriegt der Führungsoffizier aufschlußreiches Material: Er bespitzelt nebenbei immer auch seine Spitzel. Anhand des Wanzenprotokolls kann er seine beiden Zuträger auf Glaubwürdigkeit und Genauigkeit überprüfen. Wir lebten alle wie Ratten in wechselnden Versuchsanordnungen.

Die Betreuung durch Mielkes Dienstleistungskonzern war umfassender, als wir wußten. Sie ging noch tiefer ins Intime und zugleich breiter ins allgemeine Menschenleben, als wir damals wahrhaben wollten. Wir schützten uns in dieser bleiernen Zeit vor übertriebenen Ängsten durch eine chronische Untertreibung aller Gefahren. Jetzt sehe ich, wir haben unsere Todfeinde unterschätzt, aber auch manchmal überschätzt. Sie waren dümmer und klüger, sie wußten mehr und viel weniger, als man so dachte. Und wenn wir geahnt hätten, wie sehr sie vor uns zitterten, wären wir am Größenwahn krepiert.

Verblüffend und manchmal niederschmetternd ist der freiwillige Übereifer, mit dem fast alle IMs berichteten. Das kann ich nicht fassen. Sie haben ihr Soll übererfüllt und "freie Spitzen"3) abgeliefert, sie haben sich überschlagen mit Verbesserungsvorschlägen beim Fallenstellen. All unseren nichtigen Privatplunder haben sie an die Firma verkauft: Eßgewohnheiten, Zigarettenmarke, Jungfernhaut und Tripper.

Wenn ich im Sommer mit Kind und Kegel meinen Freund, den Maler Otto Manigk, auf der Insel Usedom in Ückeritz besuchte, dann wurde, wie ich jetzt sehe, von der Staatssicherheit sogar ein spezieller Rettungsschwimmer an dem öffentlichen Nacktbadestrand eingesetzt. Ein Lebensretter zum Totlachen, ein zuverlässiger Genosse im Dienst ohne Hose. Was für ein Einsatz im Klassenkampf! Was'n Service!

Aber all das ahnten wir schon, das haut keinen vom Hocker. Neu ist für mich etwas andres: Die Stasi hat wirklich auf Gott gemacht, der allmächtige Mielke hat jede Woche neu unsere Welt erschaffen und ruhte am siebten Tage in Wandlitz aus. Das MfS hat nicht nur geschnüffelt, hat nicht nur passiv registriert und defensiv Beweismaterial gesichert, nicht nur verhaftet und verhört. Der Staatssicherheitsdienst hat auch aktiv Schicksal gespielt. Und am fürchterlichsten treffen in diesem politischen Kampf immer die privaten Schläge. Die sexuellen Zentralorgane, der Gefühlsapparat Herz, der Denkapparat Hirn. Das war die Rangfolge der Ziele in diesem Vernichtungskrieg des Regimes gegen einzelne Menschen. Die Liebenden in die Höllen der Eifersucht treiben, die Freunde ins Mißtrauen locken, die Verbündeten in die Rivalität. Ehen wurden getrennt und gestiftet. Existenzen wurden vernichtet und aufgebaut.

Sie schickten aus West-Berlin linksalternative Genossen, die mir im revolutionären 68er-Rausch Rauschgift anboten, sie schickten mir ausgewachsene und minderjährige Nutten auf den Hals. Die HVA4) des Markus Wolf spickte gekaufte Journalisten im Westen mit gefälschtem Spielmaterial und zahlte doppelte Honorare für verleumderische Artikel und Radiosendungen. (Keine Namen.) Sie präparierten mein Auto für Unfälle und schüchterten systematisch jeden ein, der zu mir hielt. Auch dies war eine Waffe des MfS: künstliche Kunstfehler von Ärzten, die ihren Eid auf Erich Hippokrates geschworen hatten. Die Palette reichte von zermürbenden Schikanen bis zu Mordanschlägen. Für die Ausgebürgerten und Freigekauften ging die Stasi-Betreuung im Westen lückenlos weiter. Post, Telefon, Beruf. (Keine Namen.) Alles nichts Besonderes, das war der Alltag.

Goya-Radierung:5) "Der Mann mit dem Alptraum"

Schillernd exotisch und schrecklich amüsant war für mich die unfreiwillige Umdichterei. Ich fand meine poetischen Machwerke im Aktenberg in gelegentlich komischen Variationen. Da sie immer auf dem neuesten Stand sein wollten, schrieben meine Fans in der Normannenstraße die neuesten Lieder und Gedichte vom Tonband ab, sobald die installierten Abhör-Wanzen frische Ware lieferten. So fand ich ausgerechnet meine Stasi-Ballade aus den sechziger Jahren in der Stasi-Akte:

Menschlich fühl ich mich verbunden
Mit den armen Stasi-Hunden
Die bei Schnee und Regengüssen
Mühsam auf mich achten müssen
Die ein Mikrophon einbauten
Um zu hören all die lauten
Lieder, Witze, leisen Flüche
Auf dem Klo und in der Küche
Brüder von der Sicherheit
Ihr allein kennt all mein Leid
Ihr allein könnt Zeugnis geben
Wie mein ganzes Menschenstreben
Leidenschaftlich, zart und wild
unsrer großen Sache gilt
Worte, die sonst wärn verscholln
Bannt ihr fest auf Tonbandrolln
Und ich weiß ja: Hin und wieder
Singt im Bett ihr meine Lieder
Dankbar rechne ich euchs an:
Die Stasi ist mein Ecker-Die
Stasi ist mein Ecker-
Die Stasi ist mein Eckermann . . . "

Man erkennt nur, was man kennt, lehrte der große Hegel. Ein wahres Wort auch für kleine Gelegenheiten. Wer noch nie von Goethes Vertrautem, Herrn Eckermann, etwas gehört hat, der hört eben falsch und fängt selber an zu dichten. So ein Kämpfer an der unsichtbaren Front tippt dann für die Genossen im Politbüro zur Information: "Die Stasi ist mein Henkersmann . . ." Eine andere Version fand ich auch: " . . . mein Echomann".

Ein einziges Blatt habe ich mir aus einer verplombten Akte rausgerissen, ein kleines Souvenir: Das Briefchen zeigt den Kultur- und Ideologiechef der SED, Professor Kurt Hager, als Zulieferer für den Staatssicherheitsdienst. Hager schickte seinem Genossen und MfS-Minister Erich Mielke brandneue Texte des B. Eins davon: "Antrittsrede des Sängers", ein Gedicht gegen die verdorbenen Greise im Politbüro. Hier die ersten beiden Zeilen:

Die einst vor Maschinengewehren mutig bestanden
Fürchten sich vor meiner Gitarre . . . "

Nun sehe ich, was für'n Kind ich damals war. Von wegen "vor Maschinengewehren mutig bestanden . . ." Im Spanischen Bürgerkrieg war Mielke hinter der Front mit der Liquidierung andersdenkender Genossen beauftragt. Er lag wohl nie im Maschinengewehrfeuer der Faschisten.

Die Akten liefern bittere Enttäuschungen, gewiß, aber auch hinreißende Ent-Täuschungen. Ich traf beim Lesen auf Leute, die sich in aller Stille viel mutiger verhielten, als es uns vorkam. Ich entdeckte tapfere Menschen, die jahrelang widerstanden, obwohl sie nicht geschützt waren durch eine aufmerksame Weltöffentlichkeit wie Robert Havemann und ich.

Ich fand sogar zwei Freunde, die ursprünglich als Spitzel auf unseren Kreis angesetzt worden waren und durch den dienstlichen Kontakt mit uns dienstuntauglich wurden. Sie desertierten in diesem stillen Krieg auf unsere Seite. Sie hatten nicht den kleinen Mut, uns dann die Wahrheit über ihren Sinneswandel zu sagen, aber sie hatten den unglaublichen Mut, sich aus den Fangarmen der Stasi-Krake zu befreien. Aktennotiz des Führungsoffiziers: "F. war IM der HVA. Nach Rücksprache mit der HVA wurde bekannt, daß F. im Ergebnis der feindlichen Beeinflussung durch Biermann die weitere Zusammenarbeit mit dem MfS ablehnte." Grüß Dich, P., grüß Dich, R. Keine Namen.
Es war also sehr wohl möglich, sich zu verweigern. Dies ins Stammbuch all der Jammerlappen, die so tun, als habe das Kaninchen vor der Schlange nicht davonhoppeln können. Und da ich diesen F. kenne, kann ich sogar sagen: Seine Aufrichtigkeit hat ihn nicht einmal beruflich ruiniert.
Ich muß gestehn, daß das Lesen in diesen Akten in mir auch bedenkliche Allmachtsgefühle provoziert hat. Plötzlich steigt einem wie Schamröte das Blut ins Gesicht, denn man sitzt ja wie ein geheimer Führungsoffizier über dem Material und spielt ein bißchen Jüngstes Gericht. Man kann nun selbstherrlich entscheiden, ob man irgendeinen Spitzel hochgehn läßt. Ich denke, es gibt da eine brauchbare Faustregel, eine nach menschlichem Maß: Öffentlich bloßstellen dürfen wir nur solche Täter, die selbst das Licht der Öffentlichkeit suchen und dabei lächelnd weiterlügen. Sie spreizen sich in der Regel als Opfer und verkappte Widerstandskämpfer. Ich denke an Spitzel, die nach öffentlichen Ämtern jagen und sich schamlos nach vorn an die Rampe der jungen Demokratie drängen. Keine Namen.

Nur einmal wurde mir beim Lesen schwarz vor Augen, ja aus tödlichem Haß. Rache! Rache! Rache! Weil ich aber nicht zum Racheengel tauge, darf ich nie wieder nach Frankfurt an der Oder fahren, sonst passiert ein Unglück. Mein Busenfreund, der IM "Hans Lamprecht", berichtet seinem Führungsoffizier: Biermann hat mir die drei Verstecke anvertraut, wo er seine Manuskripte hingebracht hat. Ich soll im Falle einer Verhaftung alles an mich nehmen. Biermann schwor mir, daß er selbst im Falle einer Verhaftung und auch nicht unter der Folter meinen Namen preisgeben würde . . .

Ansonsten tausend Blätter voll mit nichts als Tagesnichtigkeiten am Telefon. Kommst du heute noch vorbei? - Nein, ich kann heute nicht mehr. Diese Art Akten erkennt man schon von außen: Die Blätter sind normiert, keine eingeklebten Dokumente, keine konfiszierten Briefe in eingehefteten Tüten, keine heimlich geschossenen Fotos im Worte-Einerlei. Manche IM-Berichte sind handschriftlich, manche wurden auf Tonband diktiert und dann abgetippt. Manchmal urkomische Notate. Ein ulkiges Beispiel aus der Telefonüberwachung vom 3. Februar 1975 habe ich mir notiert:

Während eines Gesprächs knirscht und knackt es in der Leitung (was bei Biermanns Telefonaten des öfteren vorkommt.) Renate Schmidt fragt sich, was Biermann für
ein komisches Telefon besitzt. Darauf gibt er zur Antwort, daß seine Gespräche durch mehrere versandete Gehirne gehn. Daher ist der Ton so zerquetscht. Diese Geräusche erzeugt der Sand und der Kalk in den
Stasi-Gehirnen. 12.07 Uhr.

Biermann, Biermann-Freundin Eva-Maria Hagen (1977) 6): "Geschlechtsverkehr mit einer Dame"
 

Man sieht: Unser Leben unter dem totalen Verbot war trotz aller Ängste und Traurigkeiten immer auch kreuzfidel. Wir hatten besser lachen als unsere verbiesterten Feinde. Leute wie Robert und Katja Havemann hatten alles andere als eine Stasi-Paranoia. Wir haben Honecker und seine Bande mindestens so genervt wie die uns. Wir hatten immer noch viel mehr Lebenslust als Angst, wie es in dem Gedicht "Confessio"5) heißt: "Wir gingen aufrecht, hab''n uns schief gelacht . . ." Havemann war ein unverbesserlicher Bruder Lustig. Prost, Robert! Von meinem lebensklugen Freund in Grünheide habe ich die notwendige Chuzpe im Streit mit diesen selbstherrlichen Trotteln immer wieder abgelernt.

Aber aller Galgenhumor verging uns doch, wenn die Schläge tiefer als nur unter die Haut gingen. Die Liebe, was denn sonst. Ich meine die Liebe zu diesem einen Menschentier, das durch nichts und niemanden ersetzt werden kann.

Das mit den Männern und den Fraun ist schon unter normalen Bedingungen kaum zu schaffen. Die meisten von uns hätten es auch ohne Nachhilfe durch die Stasi geschafft, eine ewige Liebe kaputtzuleben. Aber wenn dann noch solch ein brutaler Machtapparat mit unter die Decke kriecht, sinken die Chancen der Liebenden ins Aschgraue. Ein Spitzel, der damals in Ost-Berlin auf meine Frau angesetzt wurde - "1.83 Meter groß, dunkle Haare, Frauentyp" -, erhielt den delikaten Auftrag: "Eine echte Liebesbeziehung ist zu entwickeln."

Allein für diesen absurden Satz hat sich das ganze Aktenstudium gelohnt. Verstehe! So wie zwischen der geliebten Regierung und den lieben Untertanen! Diese sechs Wörter formulieren das Dilemma der DDR-Führung noch treffender als Brechts ironisches Gedicht vom 17. Juni über die Regierung, die sich ein neues Volk wählen solle. Das letzte Wort in dieser kitschigen Lovestory hatte Erich Mielke am Ende der DDR vor der Volkskammer. (Glaubt´s mich doch Genossen!) Ich liebe euch doch alle!

Nach diesen lehrreichen Tagen in der Gauck-Behörde klemmte ich mir meine Mappe mit den kopierten Dokumenten untern Arm. Alle Namen beteiligter Dritter werden von den Mitarbeitern des zweckentfremdeten Seelenhirten aus christlicher Nächstenliebe vorsorglich geschwärzt. Aber das ist Augenauswischerei, denn im Original liest man ja alles. Man kann sich die Namen notieren und danach wieder einfügen. So haben wir es gemacht.

Am nächsten Morgen flog ich vom alten Militärflugplatz Tempelhof gleich nach Wien zu einem Konzert in Peymanns Edelschuppen. Aber diese Singerei war alles andere als normal. Ich saß auf der Bühne wie der Mann mit dem Alptraum, den Goya gezeichnet hat: El sueno de la razon produce monstruos7). Die Nachtmahre aus den Akten zerrissen mir die Lieder. Ich konnte mich nur schwer konzentrieren. Jedes Lied lockte irgendwelche Fledermäuse aus Mielkes Katakomben an. Irrwitzige Assoziationen. Als ich endlich das Lied für meinen Freund Robert Havemann singen wollte - die Ballade vom Gut Kirschenessen -, saß ich wie ausgeknipst im Scheinwerferlicht. Mir fiel weder die erste Zeile des Liedes ein noch die Melodie, noch wußte die linke Hand, wohin mit den dummen Fingern auf dem Griffbrett meiner treuen alten Weißgerber-Gitarre. Da schwiegen die Vöglein im Walde. Es dauerte vielleicht eine Minute, und das ist eine Ewigkeit vor so vielen fremden Menschen, die eine Eintrittskarte bezahlt haben. Alles nicht tragisch, ich rettete mich mit der Wahrheit und stotterte: Mir ist der Kopf vernebelt von vier Tagen im Gestank der Stasi-Akten.

Gegen Ende sang ich, weil es so gut paßte, meine "Populär-Ballade" aus dem Jahre 1966. Ein moritatenhaftes Pasquill gegen Ulbricht, Honecker, Sindermann und Paul Verner. Die beste Strophe ist die fünfte:

Im Neuen Deutschland finde ich
Tagtäglich Eure Fressen
Und trotzdem seid ihr morgen schon
Verdorben und vergessen
Heut sitzt ihr noch im fetten Speck
Als dicke deutsche Maden
Ich konservier euch als Insekt
Im Bernstein der Balladen . . . "

Dann kam nach all dem galligen Gespött die süße Butterbirne:

Heut morgen kam Marie zu mir
Mein allerliebstes Schmeicheltier
Das war ein Frühstück in der Früh!
Ein scharfes Brötchen hat Marie
Und Milch und Honig, weiche Knie
Und wenn mir jemand wehe tut
Dann macht Marie das wieder gut
Die Art, wie sie das macht, ist sehr
- na was wohl? - populär! "

Tja, und bei dieser Strophe riß es mich vor Lachen um. Ich holte mein Notizbuch raus und las den schmähbegierigen Wienern dasselbe noch mal in originaler Stasi-Prosa vor. Quelle: die Abhörwanze unter dem Bett:

Wolfgang Biermann führte mit einer Dame Geschlechtsverkehr durch.
Später erkundigt sich er, ob sie Hunger hat. Die Dame erklärt, daß sie gern einen Konjak trinken würde.
Es ist Eva Hagen. Danach ist Ruhe im Objekt

Meinem Publikum im Burgtheater mußte ich nicht groß erklären, wer Eva-Maria Hagen ist. Ich habe für sie nicht grad meine schwächsten Lieder geschrieben. Und ganz nebenbei: Diese Schauspielerin singt nicht schlechter als ihre Tochter Nina, nur ein bißchen anders. Und meine schamlose Offenheit auf der Bühne war womöglich peinlich - aber nur für peinliche Leute.

Der Wahrheitsgehalt der Akten wird nun von allerhand dahergelaufenen und davongelaufenen Tätern in Zweifel gezogen. Für die Opfer aber sind diese Akten die einzige Chance, sich Recht zu verschaffen und einen Hauch Gerechtigkeit noch auf Erden zu erleben. Es ist gut, daß wir den Dreck endlich lesen können. Trotzdem habe ich erst mal die Schnauze voll von diesem öden Stasi-Deutsch. Das Leben ist zu kurz. So viele große Werke der Weltliteratur sind noch ungelesen. Und was ich schon las, das will ich wieder und mit neuen Augen sehn. Da finden sich im Grunde alle Niedrigkeiten schon und in hoher Sprache.

Hanns Eisler komponierte im lieblichen Kalifornien eine sehr ernste deutsche Musik zu einem Stückchen Shakespeare, das mehr sagt als 40 000 Blatt voll Spitzelprosa. Es sind die Schlußworte von Hamlets Freund Horatio:

Und laßt der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen,
Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören
von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,
Zufälligen Gerichten, blindem Mord;
Von Toden durch Gewalt und List bewirkt,
Und Planen, die verfehlt zurückgefallen
Auf der Erfinder Haupt: dies alles kann ich
Mit Wahrheit melden.

Ich habe meinen Teil der traurigen Wahrheit gemeldet. Aber nun ist genug. Andere müssen noch sprechen in ihrer Sprache. Für mich ist die Schlacht im Stasi-Schlamm beendet. Ich habe meine Akten gelesen, mein Herz hat genug gesehn. Das weiß ja jeder Provinzgockel: Es gibt noch viel Schlimmeres auf dieser wahnsinnigen Erde, aber Vergnüglicheres gibt es eben auch. Ich schütte jetzt wie Fischfutter diesen Text in das große Aquarium an der Hamburger Ost-West-Straße8), und dann ziehe ich mir endlich neue Saiten auf meine alte Gitarre. Et tout finit par des chansons.

Wann immer ich seit dem Fall der Mauer an Deutschland dachte in der Nacht, konnte ich ausgezeichnet schlafen. Der Dreckverband ist abgerissen, die offenen Wunden können heilen. Der Rest ist nicht Schweigen. Übrig bleibt eine tiefe Verletzung, die niemals heilt und die keiner mehr merkt. Und ansonsten: ein heilsames Gelächter.

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"Ausschweifungen veranlassen"                                         
Stasi-Schikanen gegen Wolf Biermann: ein Strategiepapier des MfS

Als Wolf Biermann vorletzte Woche in der Berliner Gauck-Behörde seine Stasi-Akten durchsah, entdeckte er dieses Dokument: eine nach seiner Ausbürgerung 1976 zusammengestellte Liste destruktiver "Maßnahmen" gegen den DDR-Staatsfeind Biermann.

1. Maßnahmen zur Verhinderung und Eindämmung der feindlichen, politisch-ideologischen Wirksamkeit / Verbreitung

a) im Operationsgebiet {gemeint ist die Bundesrepublik -Red.) gesteuert

- z.B. geeigneten Journalisten-IM zur Diffamierung einsetzen (sinnentstellende Äußerungen usw. in Presse o. a. Massenmedien veröffentlicht)

- über IM-Konflikte zwischen den Verlegern herbeiführen

- Verunsicherung des Verbindungssystems (fiktive Werbungen, HA-VI-Kontrollen (HA = Stasi-Hauptabteilung -Red.), Zoll usw.)

-  Einreisesperren durch HA VI.

b)   in DDR

- Förderungsverträge, um vertragsrechtliche Maßnahmen einleiten zu können (Lizenzentzug usw.)

- Manuskriptdiebstähle und Unbrauchbarmachung von technischen Hilfsmitteln / Tonbandgeräte u.a. Geräte zerstören bzw. durch nicht gleich zu erkennende Eingriffe funktionsuntüchtig machen / Filme belichten, Bänder löschen

-Verbreitung sinnentstellender Verfälschung - Nachahmung von Texten und Musik.

2. Maßnahmen zur Zersplitterung und Verunsicherung des Verbindungs- und Anhängerkreises sowie der eigenen Person

- fiktive Werbungen

- Desinformationen hineintragen zur Schaffung von Widersprüchen

- Verdächtigung von Einzelpersonen über Zusammenarbeit mit MfS (kann auch auf eigene Person angewendet werden)

- gezielte betriebliche Aussprachen mit ausgewählten Personen

- Störung des Verbindungssystems / häufige Veränderung der Telefonnummer / Leitungsstörungen verursachen (z. B. wenn wichtige Verabredungen geplant sind)

- Festnahmen (Schaffung von Bedingungen, die zu kriminellen Handlungen führen) z.B. Trunkenheit am Steuer usw.

- Auftritte von „Widersprechern" bei Zusammenkünften organisieren

- ständige ideologische Auseinandersetzung, dosiert, daß er selbst zu zweifeln beginnt.

-  zielgerichtete Heranziehung zum Wehrdienst.

3. Maßnahmen zur Schaffung psychischer Belastungen

-  Zerstörung seines Persönlichkeitsbildes durch negative Beeinflussung seiner Lebensgewohnheiten, z.B. zum Alkoholmißbrauch veranlassen
zu sexuellen Ausschweifungen (Minderjährige) veranlassen (Möglichkeiten für EV durch K prüfen und veranlassen)

- Liebesverhältnisse, die bestehen, zerstören
- falsche ärztliche Betreuung
- persönliches Eigentum beschädigen PKW Wochenendgrundstück
Boot usw.
- bestimmte Vergünstigungen unterbrechen
AWA-Valutaschecks (AWA - Genta der DDR -Red.) auf rechtlicher Grundlage kündigen Garage kündigen
- Maßnahmen gegen Familienangehörige
z.B. wenn im Ausland wohnhaft durch HA VI öfter „filzen" lassen
- anonyme Anrufe.

4. Maßnahmen zur Auseinandermanipulierung von Zusammenkünften, Veranstaltungen usw.

Hauptmaßnahme:
Ständige offensive Argumentation durch fähige politisch hochgebildete Kräfte, die die Falschheit der Gegenargumente glaubhaft und verständlich widerlegen.

- Gezielte politische Arbeit durch Gegenveranstaltungen, Beeinflussung des Veranstalters
- gezielte Maßnahmen des Staatsapparates
- gezielte Umgruppierungen negativer Kräfte durch Legenden und op. Kombinationen auf Personen bezogen
- durch Aussprachen bei staatl. Stellen (s. Biermann - Löffler)
- durch „Lob" bei den anderen Haß erzeugen (Spaltung, Entfernung voneinander)
- mittels Parteiauftrag bestimmte Personen zur zielgerichteten Veröffentlichung in Parteipresse veranlassen (s. Hauser Harald)

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KOMMENTAR                                                                         

Poet als Stasi-Knecht
MATHIAS SCHREIBER

Kann ein guter Schriftsteller nicht auch ein moralisches Schwein sein? Erzwingt die Stasi-Verstrickung von Lyrikern wie Sascha Anderson und Rainer Schedlinski eine vernichtende Kritik ihrer Werke?

Zweifellos soll es, was Neunmalkluge immer wieder beanstanden, bei der großen Literaturdebatte dieser Wochen nicht bloß darum gehen, wer nun im Auftrag der Staatssicherheit seine Freunde verraten oder gar kriminalisiert hat - und wer nicht.

Wieder einmal steht das Verhältnis von Kunst und Moral zur Diskussion. Allerdings erst, wenn wenigstens die wichtigsten Täter - der Ausdruck „Spitzel" ist zu niedlich für sie - enttarnt und die Fakten einigermaßen geklärt sind. Das ist bei Anderson und Schedlinski nun eindeutig der Fall. Den Vorwurf der Zeit, dies habe „zu lange" gedauert, kann man getrost vergessen; er soll ja bloß das eigene Recherche-Defizit moralisch veredeln.

Warum aber hat Anderson nach Biermanns „Arschloch"-Rede so massiv gelogen - im perfiden Ver­trauen auf die erfolgreiche Aktenvernichtung? Warum hat er nicht die Chance genutzt, selbst als erster die ganze Wahrheit darzustellen, mit jener „Differenzierung", die er an der öffentlichen Erörterung seines Falles schmerzlich vermißt? Auch diese letzte Lüge wirft Schatten auf die Glaubwürdigkeit des Dichters.

Der Begriff der Glaubwürdigkeit zielt auf die Integrität des öffentlichen Redens, nicht auf eher private moralische Verfehlungen. An denen sollte ein Dichter tatsächlich nicht gemessen werden.

Ein Priester, der seine Erkenntnisse über Gemeindemitglieder regelmäßig der Staatssicherheit gemeldet hat, kann, nachdem dies bekannt geworden ist, einen richtigen Satz sagen, etwa: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Nur: Man glaubt ihm nicht mehr. Um diese Art von Überzeugungskraft geht es auch bei einem Dichter. „Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muß es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden", sagt Schiller. Dies meint die - oft mißverstandene - Forderung nach dem „Authentischen".

Allerdings gibt es authentische Schurken. Der französische Lyriker Arthur Rimbaud hat mit Waffen ge­handelt und war auch sonst kein Tugendbold. Für ihn war der Poet „der große Kranke, der große Verbrecher, der große Verfemte - und der Höchste aller Wissenden". Darauf berufen sich die Sprachakrobaten vom Prenzlauer Berg. Radikale Poesie als Ausstieg aus jeglicher Politik - eine Protestform, so legitim wie Biermanns kratzbürstige Polit-Balladen.

Aber wer Rimbaud beschwört, darf nicht unterschlagen: Die Magie seiner Verse kam aus einer halsbrecherischen Hingabe des Dichters an die Sprache. Reine Dichtung, poesie pure - das ist die Kunstmoral der extremen Moderne. Sie erlaubt allerlei Fehltritte, eins aber nicht: Doppelzüngigkeit.

Rimbaud hat eben nicht, wie Anderson und Schedlinski, im Nebenberuf denunziatorische Berichte über Menschen geliefert, und das in einer Sprache, die aus dem Wörterbuch des Unmenschen stammt. Auf diesen Unterschied kommt es an.

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1) Beim Studium seiner Stasi-Akten am 15. Januar in der Berliner Gauck-Behörde. 

2) "Inoffizieller Mitarbeiter Verbindung", ältere Bezeichnung für IBM: Spitzel mit Auslandskontakten

3)
DDR-Ausdruck für "frei" verkäufliche Übersoll-Produktion

4) Hauptverwaltung Aufklärung


5) "Der Schlaf der Vernuft"


6)
Im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg

7) Der Schlaf der Vernuft gebietet Ungeheuer


8) Gemeint ist das SPIEGEL-Verlagsgebäude

   
       

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