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Tagebuch-Aufzeichnungen z.Zt. von Glasnost und Perestroika

 

8. Febr. 1987
Ich lese mit Bangen und freudiger Erregung alles in den Zeitungen über die Entwicklung in der Sowjetunion, Gorbatschows Offen-heitspolitik (Glasnost, Perestroika) und die DDR-Reaktionen.
Sollte doch ein Weg durchs Nadelöhr führen, sollte ich wieder zu den vertrauten Plätzen meiner Jugend zurückkehren dürfen?

Brief an Michail Gorbatschow

Lieber Michail Gorbatschow!
Es ist etwas sehr Ungewöhnliches für mich, einem Staatschef ein Geschenk zu machen, aber seit Ihrem Erscheinen in der Öffentlichkeit verfolge ich mit leidenschaftlichem Interesse und sehnsuchtsvoller Hoffnung, auch Sorge und Aufgeregtheit die Entwicklung im Osten, wo ich mich gefühlsmäßig zu Hause fühle und von wo ich vor zehn Jahren mehr oder weniger freiwillig weggehen musste. Ich habe in der Schule in der DDR Russisch gelernt, die russische und die sowjetische Literatur gelesen, auch die unterdrückte, die Lieder gelernt und gesungen. Gleich als ich in Westdeutschland war, hab ich diese Schallplatte: 'Nicht Liebe ohne Liebe' gemacht. Und die Menschen hier lieben diese Lieder, sie treffen sie mitten ins Herz, denn obwohl ich sie in Deutsch singe, ist die Mentalität, das Eigene, die Lebenslust und die Melancholie erhalten geblieben - und es sind trotzdem echt singbare Lieder in meiner Sprache geworden (denn kein Geringerer als Wolf Biermann hat sie ins Deutsche gebracht) - und es freut mich, einen kleinen Beitrag geleistet zu haben für die Deutsch-Sowjetische Annäherung und das gegenseitige Kennenlernen.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Kraft, ein starkes Herz, einen kühlen Kopf, Ihren lebendigen Humor und die Gelassenheit, viel Liebe und Lebensfreude, damit Sie das, was noch vor Ihnen liegt, gut durchstehen. Sie sind - vielleicht mehr als Sie wissen oder ahnen - ein 'Retter in höchster Not' - in meinen Augen jedenfalls.
Das Glück möge Sie beschützen ...



13. 7. 87
Brief an Gorbatschow Rolf Schälicke geschickt - zum Übersetzen.
Ich sitze an der Alster in der Sonne, viele junge Schwäne dieses Jahr.


11. 12. 88
In zwei Tagen fliegen wir nach Moskau. Bin aufgeregt. Es ist eine Sensation für mich, dass wir in die Sowjetunion dürfen. Außerdem hat Wolf ein neues Lied gemacht, das allen Leuten gefällt: 'Michail', das ich in Deutsch und Russisch singe.
Die Erdbebenkatastrophe in Armenien hat meine Freude gelähmt - und heute die schlimme Meldung, dass ein Flugzeug mit neunzig Soldaten, Rettungshelfern, abgestürzt ist. Es gibt so viel Unglück. - Cosma singt: 'Mein lieber Gorbilein, das macht mir Sorgilein'.

Moskau, 16. 12. 88
Mir ist, als ob ich träume, spinne, rumphantasiere - doch mitnichten! Es ist blanke Wirklichkeit: Eine neue Art von sozialistischem Realismus ist mir begegnet. Zwar liegt da unten, wenn ich aus dem Hotelfenster sehe, die alte, neu-häßliche Gorki-Straße, das Tageslicht im Kaufhaus GUM schimmert durch wie eh und je, Mottenkugeldunst wabert vor sich hin wo du gehst und stehst, nicht abreißenwollende Menschenströme unterirdisch. Aber dann, paar Ecken weiter: der ARBAT mit Kitsch und Kunst, eine Straßensängerin singt zur Gitarre im Stil von Wissotzki, sauf-heiser-schreiend, wie kurz vorm Ertrinken, unter die Haut gehende Songs. Leute bleiben stehn, sie schlägt sich die steifgefrorenen Finger warm. Applaus ist unüblich; Kopeken aber rollen reichlich rüber, eine Ausstellung moderner Malerei schießt aus dem Boden, Schwarzmarkt-Ware in Torbögen auf verschlungenen Hinterhöfen kann man förmlich riechen. Passanten bewegen sich vorsichtig im graumehligen Schnee auf mit Eispickeln bewachsenen Gehsteigen und Trottoirs, Touristen aus aller Herren Länder sind da, Geschäftsleute: Schwedisch spricht man im Fahrstuhl, Dänisch hört man auf der Wechselstelle, Italienisch an der Rezeption, Japanisch, Indisch und die restlichen Weltsprachen sowieso. Der erhabene Rote Platz mit seinen märchenhaften und pathetischen Gebäuden existiert noch samt Bauwerken wie Kreml, Mausoleum, Basilika-Kathedrale, bildbestimmendes Gewimmel von kostbaren Pelzmützen, edlen Tierhäuten, Coop-Ware, Jeans-Klamotten, große Armut zwar, doch auch deutlich spürbare Aufbruchstimmung. Aber mittendrin vor allem Ich, leibhaftig: Eva-Maria Hagen nämlich befindet sich in Moskau und ist ganz aus dem Häuschen vor Aufregung und schwer zügelbarer Freude, auch zufrieden über den bisherigen Verlauf: Denn kurz vor der Landung überfielen mich Zweifel: Ob das auch alles mit rechten Dingen zugeht, wenn sie mich ins Sozialistische Lager reinlassen, in die Große Sowjetunion dazu - und nicht sowas passiert wie zehn Jahre zurück, als mein Gepäck an der Grenze aussortiert werden musste ausm Zubringer zum Flughafen-Schönefeld: Da wollte ich mich mit Matti treffen. Doch ein smarter DDR-Staatssicherheitsmann brachte mich unter Bedauern und Achselzucken im Geländewagen bis zur Mitte vom Niemandsland trotz gültigem Visum der bulgarischen Behörden - und ließ mich den Rest der Strecke nach Westberlin wie einen überladenen Pack-Esel zurücktrotten. Die Szene werde ich nicht vergessen. Auch wie mich die bundesrepublikanischen Uniformen wie eine Erscheinung bestaunten, fragten: Wo kommen Sie denn her! Denn dass jemand durchs Brachland vom Grenzgebiet spaziert ohne abgeschossen zu werden, war nicht an der Tagesordnung. Am Aeroport Scheremetjewo wurde ich durch einen Seitenausgang geschleust mit meiner Gitarre, weil die Veranstaltung bereits auf Hochtouren lief im 'Palast der Jugend', die Estrada mit Punk-Rock-Pop aus Polen, ein Farb-Bombardement; die Laser-Technik hat auch im Osten Einzug gehalten, künstlich erzeugte Dampf-Schwaden kriechen aus der Unterbühne, Krach und Geheule mit 'hunderttausend Watt' - oder was weiß ich wieviel, jedenfalls vielzuviel des 'Guten' haut dir ins Gebein. Witz in Eigenproduktion wird serviert, starker Tobak über Missstände und Mangelware, wie da sind: Klopapierrollen, Seife; selbst vor Volksvertretern auf Minister-Ebene macht die Kabarettwalze nicht halt. Und die Menschen amüsieren sich auf neuartig-befreiende Weise. Innerbetriebliches, Chorgesang, Modenschau von 'Burda'; die einheimische Dolmetscher-Conferenceuse im United-State-Look leitet gekonnt über zur nächsten Nummer, die irgendwann Ich zu sein hatte laut Plan und singen sollte vor über zweitausend Menschen. Allerdings ging das Vertrauen der Freunde nicht soweit, dass der schwarze Kasten mit Inhalt unbesehen passieren durfte: penibel wurde das im Bauch vom Instrument befestigte Etikett festgehalten. Meister Petz aus Taunusstein, ehemalig Markneukirchner, mit unverkennbar erzgebirgschem Zungenschlag, hatte sie, nach meinen Angaben und dem Studium einer Deiner Weißgerber-Gitarren angefertigt. Ich war überrascht, als ich die Zollpapiere zurückkriegte: 'Modell E.-M. Hagen. Gefertigt: 30. 8. 83' - stand drauf. Also, langer Rede kurzer Sinn: Wir hatten einen Riesen-Erfolg mit unsern Liedern: 'EvaĠs Piep-Show' und 'Erste Liebe'. 'Das mit den Männern und den FrauĠn' war wohl, glaub ich, etwas schwieriger: Die Emanzipation der Frau ist noch Brachland. Die sowjetische Frau ist an erster Stelle für den Zusammenhalt der Familie da, zum Schlangestehn, Ranschaffen von Nahrung für die nächste Mahlzeit und sonstige Mangelwaren wie Seife, Waschpulver, Alltägliches. Dann kam unser grandioses Michail-Lied. Die Leute haben mitgeklatscht und für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich spontane Beifallskundgebungen von sich gegeben; obwohl das Klavier eine Katastrophe war, dazu verstimmt. Aber Sigi hat gespielt wie ein junger Gott ums Überleben, ich hab mir die Brust aufgerissen mit leidenschaftlich-sehnsuchtsvoller Lebenslust und die Menschen mitgerissen in meiner Begeisterung und ungebrochener Hoffnung. Der zweite Abend war aber der eigentliche, die sogenannte GALA, wo alle diplomatischen Vertretungen und Journalisten eingeladen waren, die Teilnehmer an der Konferenz von ZOT - das ist so eine Vereinigung für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland, viele Germanisten, Studenten, die deutsch verstanden, zahlreiche, dort lebende Deutsche, Künstler; Mischka und Naum, die ich mit zum Empfang in der Residenz des deutschen Botschafters geschmuggelt hatte, wo sie ehemalige 'Bekannte' trafen, neue Bekanntschaften machten, Einladungen erhielten. Mischka hat den deutschen Botschafter in ihre russische Küche 'bestellt'. Tja und was soll ich Dir sagen, lieber Wolf, es war einfach toll! Nach unserm Auftritt kamen Fotografen, Interviewer, Gewöhnlich-Sterbliche, wollten das Michail-Lied haben und mehr wissen über Hintergründe ... Zwei Mädchen von einer Komsomol-Gasjeta, eine Übersetzerin und die Journalistin: als ich ihnen sagte, dass ich vor über zehn Jahren im Zusammenhang mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann ebenfalls die DDR verlassen musste, fühlte ich mich durch das plötzliche Flüstern der beiden Russinnen hinter vorgehaltener Hand an unsere heißgeliebte, frostkalte Heimat erinnert. Ich machte sie darauf aufmerksam, dass sie nicht mehr zu flüstern bräuchten, denn Glasnost und Perestroika garantierten, ja, verlangten geradezu Offenheit und Umdenken auf allen Gebieten. Aber diese ins Hirn eingewachsenen Mechanismen, die böse Saat der Stalin-Ära, Angst, das Misstrauen, lässt sich nicht von heut auf morgen ablegen wie ein verschmutztes Kleidungsstück. Es war ein seltsam wehmütiges und beglückendes Gefühl, etwa wie Du es im Lied: 'Gut, dass jetzt bessere Zeiten kommen' oder 'ex oriente lux again', beschreibst. Auch die Stelle aus der 'Ballade vom wiederholten Abtreiben': '... dass das Leben fast vorbei ist, eh man was begreift', passt wie die Faust aufs Auge. Und nu der Clou vons Janze: Unser Besuch, die 'Inspektion' in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU! Einfach nicht zu fassen! Ein neues Zeitalter ist über uns hereinge-bro-chen. Wirklich und wahrhaftig. Also Wolf, ich schwöre, mir war, als spielte ich in einem utopischen, schönfärberischen Film. Gleich käme bestimmt das 'Aus' des Regisseurs, dachte ich, das Schlagen der Klappe, das Ende vom Lied, äh, vom Film: Gestorben. Im Kasten. Und alle gehen brav nach Haus wie gehabt. Andernfalls die Knebel-kette und ab in den Keller vom Präsidium. Es war mehr oder weniger Zufall gewesen, dass wir dort landeten. Ein sympathischer Mensch der Gruppe, Dr. Sperling, Bundestags-Abgeordneter der SPD, hatte uns aufgefordert, mitzukommen; der Bus fuhr schon zu einer Zeit ab, wo ich sonst im Tiefschlaf liege. Diesmal war ich sogar früher wach als nötig, um das 'Ereignis' nicht zu versäumen. Natürlich hatte ich keine so persönliche Begegnung erwartet. Das erste Mal empfingen uns der Direktor, ein Prof. Rudolf Janovski, vergilbter Nikita Chruschtschow-Typ, aschfarben, mit noch leichtem Abglanz eines Feuerchens in den verwirrt und fuchsfreundlich dreinblickenden Augen und sein junger Stellvertreter, der im 'Palast der Jugend' gewesen war den Abend zuvor und mich, vor Begeisterung rosarot angehaucht und leuchtenden Auges, begrüßte. Alle verstanden ganz gut Deutsch! Erstmal wurden wir rumgeführt und durften die alte kalte Pracht in Marmor unter Glas-Kuppeln besichtigen. Da war ein Modell ausgestellt auf einer Platte, das als moderne Erweiterung gedacht ist, eine Art Wohnstätte für Familienangehörige mit Park, Garten, Wiese, mehr ein Kommunikationszentrum, menschenfreundlicher. Dann unterhielten wir uns drei Stunden lang. Ich hab meinen Cassettenrecorder aufn Tisch gestellt und nachdem ich den Stellvertreter mimisch um Erlaubnis gefragt hatte, alles mit aufgezeichnet; der hatte mit charmant-hilflosem Lächeln zugestimmt. Wir verabredeten ein zweites Treffen im größeren Rahmen für zwei Tage später. (Mischka hatte ich mit eingeschleust, sie wollt nicht, dass die erführen, wer sie sei. Auch bei andern Begegnungen sprach sie deutsch, wollte nicht als Russin vorgestellt werden; die Erfahrungen der Vergangenheit haben sie geprägt, dass sie misstrauisch bleibt. Aber sie hat nicht schlecht gestaunt.) Und da saßen wir, siebzig Personen: Professoren, Doktoranden; Professor Vogeler auch, der Sohn von dem berühmten Maler aus Worpswede, der ein wahnsinni-ges Schicksal hatte und in Stalins Lager umgekommen war: der Sohn von ihm übersetzte also den Dialog.
Und Sigi Buchverschlinger, der hat vielleicht klug formuliert und provokante Fragen gestellt, die die Leute aufhorchen ließen. Er sagte zum Fall Bucharin sinngemäß: dass es doch ein ungeheurer Zynismus sei, wenn die Henker ihren Opfern verzeihn, indem sie sie Jahrzehnte nach ihrer Ermordung rehabilitieren. Auch wenn inzwischen eine andere Generation herangewachsen ist - und wer wollte schon gegen die hoffnungserweckende Perestroika Partei ergreifen - aber dass die Rehabilitation Bucharins sich gerade im Namen der blutbefleckten Partei vollzieht, die sich weiterhin anmaßt historisches Weltgericht zu spielen, ausgerechnet hier, wo es um die Reinwaschung von ihren Verbrechen geht, das ist geradezu pervers. Die jüngsten Rehabilitatio-nen sind eine Art Leichenschmaus, mit dem die Partei ihre Opfer wieder in sich aufzunehmen sucht, um den Leichengeruch verschwinden zu machen.
Die Spitzenkader saßen da mit aufgerecktem Rückgrat, drei junge intellektuelle Frauen unter ihnen, Dolmetscherinnen, Untergebene, geschminkt, schick gekleidet, warfen wache, bewundernde Blicke auf meinen ungestümen Gefährten; diese Töne elektrisierten sie, schienen ihnen aber einen Siebenmeilenstiefelschritt zu weit vor. Ich konnt es förmlich riechen: Der Mehrheit der Mitglieder sind eingefleischte Konservierte, äh, Konservative, Vergangenheitsapostel, die um ihre Privilegien bangen, die nur drauf warten, dass das Strohfeuer verpufft. Der kluge, bedenkliche Leiter Janovski fand die unglaubliche und einleuchtende Erklärung, nämlich, dass die Genossen auf manche im Zuge von Glasnost und Perestroika auf sie einstürmenden Fragen mitunter keine Antwort mehr wissen.
Unsere Delegazia war anfangs pauschal vorgestellt worden, wir waren ein buntgemischter Haufen aus Kulturgremien und Politik, ein Philosophiestudent, eine Künstlerin ... Einer fragte dann nach dem Studenten. Als rauskam, dass es mein Sigi war, sagte der Interessent verblüfft: Wenn bei euch so die Studenten beschaffen sind, wie müssen dann erst die Professoren sein. Von deutscher Seite wurde bescheiden selbstkritisch geantwortet, dass dieser junge Mann doch eine Ausnahme wäre. Anschließend wanderten wir durch ein Labyrinth aus Verbindungswegen zwischen Gebäudekomplexen, manche erinnerten an Gefängnisgänge, ohne ein Lüftchen, hin zu einem Repräsentationsraum, wo ein Steinway-Konzertflügel stand. Dort fand eine regelrechte Völkerfreundschafts-Szene statt. Ich sang das Spottliedchen über MICHAIL mit den russischen Einlagen, bekam enthusiastischen Applaus. Küsse, Umfassen. Rudolfo sagte 'Maladjäz' (was soviel wie Prachtkerl bzw. Prachtweib bedeutet) zu mir! Ich hatte alle Deine Platten und Bücher dabei, die ich ihnen für ihre Bibliothek ans Herz legte mit dem Hintergedanken, dass die deutsch-demokratschen Genossen, die es dort auch gibt in der Kaderschmiede, dieses ihnen daheim verbotene Lesegut studieren können und verteilte es an die Mitglieder der Akademie, die sich wie Kinder freuten. Vogeler war beglückt, was von Dir in den Händen zu halten. Wir haben uns auf der Fahrt im Bus unterhalten, berichte ich Dir alles lieber Wolf, wenn wir wieder in Hamburg sind. Juchhu! - Eva

2. Feiertag im NDR, Sigi schreibt die Arrangements, im Januar werden wir mit NDR-Musikern Aufnahmen machen: 'Michail', 'Armer Teufel', 'Ich hab im Maul noch alle meine Zähne'. - Das 'Michail'-Lied wird in der ersten 'Zeit'-Nummer 1989 erscheinen, zusammen mit Wolfs Brief an Lew Kopelew.

Traum: Michail hat sich auf einen Auftritt vorbereitet, mit freier Brust, langem Morgenrock, eine Krone aus Birkengrün in die Stirn geschoben. Ich hab ihm Ratschläge gegeben. Es war Vertrautheit zwischen uns. Ich machte ihm vor, wie ich Bärchen seine Bärenhaftigkeit vorspielte ... Sigi war auch stets in der Nähe.
Aber dann entwickelte sich ein Negativ-Bild, Schattenfiguren versuchten, Michail ein Bein zu stellen, ihn in eine Falle zu locken.
In einem engen Durchgang, wo wir diesen 'verstehenden' Moment hatten, ich ihm signalisierte: nach der 'unblutigen Schlacht' machen wir uns einen Jux und feiern ein Fest nach Zarenart - schrumpfte der Standort auf die Größe des Deckels überm Abstieg zur Kanalisation und viele seiner Jünger purzelten über den Rand.
Ich schrie: Lasst euch nicht an die Wand drücken! Aber das Volk war taub, vielmehr verstanden sie nicht. Wir sind mit dem Jeep durch Panzersperren und Gräben gerast, an der Front entlang, Beschuss, Angst, Krieg. (Bilder aus der Kindheit und Afghanistan.)

1. 2. 89.
Das 'Michail'-Lied ist aufgenommen. Jetzt versuche ich, ein Photo von Michail Gorbatschow aufzutreiben für das Cover.
Ich war im russischen Konsulat am Schwanenteich, wo ich einige zur Auswahl bekam. Ich hab ihnen meine LP mit den russischen Liedern geschenkt, worüber sie sich kindlich gefreut haben.

8. 12. 89
Die Ereignisse überschlagen sich, keine Zeit zum Aufschreiben.
Unterwegs nach Frankfurt, Konzert 'Alte Oper'. Voriges Wochenende waren wir in der DDR. Nach 13 Jahren hat Wolf ein Konzert gegeben in Leipzig. Wir fuhren im Tross von Westberlin aus.
Die Staatssicherheit war wie elektrisiert, wir standen noch auf der Fahndungsliste. Wolf hat die neuen Lieder gesungen, Namen genannt, Krenz verhöhnt. Ich hab mit Wolf das Lied 'Erste Liebe' gesungen. Eine wahnsinnige Woche. Alte Freunde getroffen. Pamela mit ihrem Bauch (3 Tage vor der Entbindung) war auch dabei.

Dann hab ich beim Treffen ehemaliger und derzeitiger Liedermacher in Ostberlin, Haus der jungen Talente, gesungen: 'Ich leb mein Leben', 'Die ausm Osten'. Mir rannen die Tränen runter.
Im Publikum haben viele geweint. Es war befreiend. Wolf war sehr zufrieden mit mir, hat mich lange gedrückt, war miterschüttert.
Es wurde vom Rundfunk übertragen, Ost und West, vom Fernsehen.
Samstag früh, am 3. Dezember 1989, beschlossen wir, wieder in die DDR zu gehen. Pamela war sofort dafür, nur Mutter Emma ist entsetzt: 'Wolf hat hier genug zu kämpfen, hier ist sein Platz ...'

11. - 14. Dez. 89
Hörspiel 'Schinderhannes', Zeit nach französischer Revolution.
Ich spüre Parallelen, sitze dauernd vor der Glotze, verfolge besorgt die Entwicklung im Osten, hab Angst, dass sich reaktionäre Kräfte ausbreiten. Die Mehrheit will die Wiedervereinigung, schreien: 'Helmut Kohl - du bist unser Wohl'. Ich beschwöre Wolf täglich, er soll rüber gehen - in Berlin (am 1./2. Dez.) waren wir alle dafür. Dann wurde der 'Dowidel' geboren und da muss er sich jetzt um die Familie kümmern. Außerdem ist er angeschlagen von Leipzig. Er müsste gehätschelt und gepflegt werden, stattdessen kümmert er sich um seine alte Emma, die oft unberechenbare Sachen macht. Und um den Kindersegen. 'Verdrehte Welt - das seh ich (nicht so) gern ...'. Wenn es einen normalen Ehemann beträfe, könnte man sagen, welch ein Fortschritt. Aber große Geister sind nicht so reichlich gesät in dieser orientierungslosen Gesellschaft ...
Mit Cosma in Paris telefoniert, sie sprach mit mir wie eine Zehn-jährige - auch darüber, dass Nina ja ein Baby bekäme (...)
Es riecht nach Smog, nach DDR. Treffen mit Lutz Maier-Rehm, er organisiert Konzerte. Ich fahre nächste Woche 'rüber'.

8. 4. 90
Da war ich also in der alten Heimat: In Eisenach, Jena, Dessau, Leipzig, Berlin. Es war bittersüß und traurig schön. Die Menschen haben mich wie ein verloren geglaubtes, nun wieder nach Hause gekommenes Familienmitglied begrüßt. Aber auch wie eine große Künstlerin, auf die sie stolz waren. Jetzt hab ich wieder viel Ostgeld und ein Konto bei der Bank in Leipzig, dazu ein Scheckbuch ... Wieder muss ich das Geld, wie vor 13 Jahren rausschmeißen, weil es dafür bald nichts mehr gibt. Ich denke an die Uckermark ...
 

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