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Tagebucheinträge 1968, September - Dezember


Mein Allerliebster, Herkules, Du Angsthase, Glückssonne, Regenwolke, mein Schlaftier und Lieblingsliedermacher, Fremder, mir Nahestehender, mein siebenter Himmel, Du, meine Sehsucht und mein Dideldum!
Jeden Tag stell ich erneut Berechnungen an, wie ich wann zu Dir aufbreche. Es ist ein Unding mit der Zeiteinteilung. Dabei bräuchte ich dringend nötig eine unfassbare Bestätigung dafür, daß Du lebst, in Freiheit bist - wie relativ das ist! Letzte Woche hatte ich morgens Proben und abends, tagtäglich. Dazwischen Ballettproben für den großen Schluß-Can-Can, Kostüm, Maske, Text umlernen, Vorbereitung für die LADY in Zwickau. Nachts hör ich oft Klopfgeräusche, stell dann aber erleichtert fest, daß es nur das Herz ist, das diesen Krach schlägt. Es ist eben ganz schön strapaziert worden durch die Ereignisse in der CSSR.
Mein Liebster, Du weißt, daß ich fest bei Dir bin, daß mein Leben aufs engste mit Deinem verbunden ist. Vor paar Tagen lernte ich in Dessau einen Slowaken kennen. Er ist Sänger, kam grad aus Bayreuth. Wir haben uns intensiv unterhalten, hab ihm von Dir erzählt: Das Prager-Commune-Lied hat ihn beglückt. Er kannte Dich durch eine Fernsehsendung, die er Drüben sah. Ich soll Dich herzlich grüßen. Dieser Opernsänger ist, gemessen an den meisten seiner Berufskollegen, ziemlich gebildet, auch politisch informiert. Eine Oase in dieser brachliegenden Landschaft. Enttäuscht hat mich allerdings, daß er sein Land verlassen will. In den nächsten Tagen holt er Frau und Kind und will über Österreich 'fahnenflüchtig' werden. Mir scheint, er kommt spät auf die Idee: Ohne Visumstempel durch die Panzersperren wäre Leichtsinn. So wird er Sonntag wieder im 'Nabucco' singen.
Übrigens Panzer rollen überall, ob vor oder zurück, kann ich nicht ausmachen. Die Nächte sind 'erhellt' von beunruhigenden Geräuschen. Durch meine Träume huschen Ungeheuer, fliegen Ungetüme, abstürzende Schuppen, mehr Eisenplatten, Pfeile bohren sich mitten in die Stadt hinein.
In dem Zusammenhang was man so erzählt: In der Tschechoslowakei sind Panzerkolonnen über eine Brücke gerollt. Die Brücke hielt nicht stand, zerbrach. Panzer stürzten in die Tiefe. Die Brücke hatte bis dahin keinen Namen. Jetzt heißt sie 'Brücke der Tschechoslowakisch-Sowjetischen Freundschaft. Bittersamen...

Ich bin in Zwickau. Die erste Vorstellung nach der Sommerpause ist vorüber. Es war toll! Ausverkauft bis auf'n letzten Stehplatz. Neue Kollegen waren 'hinter meinen Rücken' eingebaut worden, welche, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Aber es lief wie am Schnürchen. Bis auf das Ascot-Bild. Die Lady Eynsford-Hill sagte statt Influenza: In-fulenza. Was macht die aufmerksame und gelehrige Eliza daraufhin, sie übernimmt und sagt: 'Meine Tante ist an Infulenza gestorben'. Lady Eynsford-Hill hat nichts gemerkt, weil sie fest glaubte, es richtig gesagt zu haben. Aber die Anderen! Auch ich wär unbeschadet über den Stolperstein drüberweg gekommen, doch plötzlich merk ich, wie das Podest vibriert. Erst dachte ich an Gleichgewichtsstörung. Irgendwo muß ein Erdbeben zugange sein, Krieg ist ausgebrochen. Umgotteswillen, eine nicht restlos ausgeräumte Uranmine untertage gibt Warnzeichen. Als ich zu Madam Higgins rüberschau, seh ich ein verkrampftes, tränenüberströmtes Gesicht. Eine andere Lady hält sich, gar nicht ladylike, mit den Füßen an den Stuhlbeinen fest. Freddy brüllt wie ein Kretin immerzu die Worte: 'Ich darf. Ich darf'. Eliza konnte nicht mehr, denn Higgins und Pickering waren ein vornehmes Karpfenschnutengeblubber. Ich sagte, um nicht auf der Stelle zu treten, zu Pickering: 'Warum sind Sie so albern, Mister P. So kenne ich Sie gar nicht'. Drauf er: 'Wieso denn ich. Sie lachen sich doch schief. Hab ich was Komisches an mir?' Und die Souffleuse beölte sich, sprach zu sich selber: 'Die kommen nicht weiter, die kommen nicht weiter'. (Ich weiß nicht, wie oft sie das wiederholte). Der Regisseur hing in der Gasse an der Feuerleiter, ein in sich verknoteter Tauwurm, zappelte, wimmerte. Das Publikum brüllte. Endlich besann die Souffleuse sich auf ihre Funktion, versuchte zu retten, keiner verstand jedoch ein Wort, ich schrie dann: 'Wie bitte? Lauter! Was fürn Ding?' Endlich sagte jemand was von 'abjemurkst' - und ich setzte ein mit: 'Da waren wir zwar schon mal, aber egal, also weiter im Text'. Die Szene war gerettet. Der Vorhang brauchte nicht zu fallen. Noch hinterher war das Haus von abebbenden Lachsalven durchzogen; inszenieren könnte man das nie.

Als ich aufwachte heut morgen im trüb-öligen, geräuschvollen Zwickau, mußte ich nochmals lauthals loslachen. Geträumt hab ich, wir hatten einander im Arm. Polizeiangehörige waren gegenüber, hatten ihre Etage modernisiert, Schalter und Knopfaugen einmontiert ins Gemäuer, leuchteten trotzdem ungeschickt, mit greller Taschenlampe, groß wie ein Feuerkrater, zu uns herüber. Doch wir waren geschickt, legten uns so, daß sie nicht ins Zentrum trafen. Ich sah an ihren Gesichtern, sie sind nicht zufrieden mit der Ausbeute. Immer nur im Dunkeln tappen, befriedigt einen Genossen nicht, sagte Leutnant Stich. Das nahmen sie zu Protokoll.
Du wirst auf mich warten, Wolfsbart, weichstruppliger, hoffen, irgendwann in der Nacht wird sie kommen, Deine Zudirgehörende, wenn's dämmert spätestens. Ich hab ja Schlüssel. Ach, lieber Allerliebster, es ist wirklich furchtbar mit der Zeit: Wenn ich die Probe nicht mitmache, könnt es sein, das Zünglein an Waage neigt sich auf die Minusseite. Du weißt, drei Wochen für die Riesenkiste, eigentlich unverantwortlich vom neuen Intendanten. Na, Du kennst die Situation.
Ich bin nur froh, daß Du gut untergebracht bist, bei so wunderbar freundlichen Menschen - und war ganz erleichtert, als ich Dein 'Asyl' sah. Die Sorge und Liebe, mit der man Dich umgibt! Nun ist aber inzwischen eine Woche vergangen. Ich hab weder eine Nachricht, noch kein nullkommanull Zeichen. Zu telefonieren traut sie sich nicht, Deine konspirative Schwester. Auch wagt das nicht grade feig zu nennende Wesen, als Frau Schulze Lehmann Müller einen Brief abzuschicken. Doch einer muß wissen, wie es Dir geht! Und so hab ich mir vorgenommen, einfach mal die Nacht nicht zu schlafen. Sicher werden wir wenig Zeit füreinander haben, deshalb schreib ich Dir diesen verkringelten Brief, auch damit Du hinterher weißt, daß ich vorher bei Dir war, also bei Dir bin, auch wenn ich nicht bei Dir war.
Um das Auto hab ich mich gekümmert: Ölwechsel, Rausnehmen der Filter, Abschmieren, neuen Abblendschalter; an den Vorderrädern war was zu hantieren, hat der Meister persönlich nachgestellt. Die Hinterräder müssen abgenommen werden, ausgebuchtet, weil von der Ungleichmäßigkeit der Umdrehungen Risse im Blech entstehen, sind schon zwei vorhanden hinten.
Hoffentlich sind die 'Marx- und Engelszungen' bald auf'm Markt, auch damit wir die Reaktion der Kläffer kennen. Die Ungewissheit nervt. Ach, wärst Du hier! Zur Premiere wirst Du sicher auch nicht kommen können. Davon stürzt die Welt nicht zusammen, nein. Ich werd nur bißchen traurig sein - so mutterseelenallein.
Weißt Du, worauf ich riesengroße Lust hätte? Auf einen ganzen Tag mit Dir, von früh bis spät, ohne daß ich weg muß nach Irgendwohin, ohne daß Passanten reinschneien. Du singst ein bißchen, spielst Gitarre, schreibst ein Gedicht, während ich das Mahl bereite. Dann kommt Jürgen, Zimmer, Otto, vielleicht auch Graf auf einen Sprung vorbei, wir spielen Schach, ich setz Dich matt nach paar grandiosen Zügen, wir gehen übern Hugenottenfriedhof zum Erholen, an Brechts Grabstätte vorbei, kucken nach einer Stelle für Dich, die noch 82 Jahre brach zu liegen hat, auch breit genug ist, daß die bleichen Knochen Deiner einstmalszukünftigen Geliebten nebenbei Platz finden. Und kaufen dattelsüße Trauben, küssen uns trotz Späher am Staketenzaun. Dann liegen wir auf frischen Laken nach Tagesablauf. Ich fühl Dein Streicheln. Und unten auf der Straße ist es still inzwischen. Nur die Polizeiautos kreuzen beständig ihren Frontabschnitt. Und Dein Mund und alles andere an Dir und wir beide zusammen, das ist der Sinn des Lebens überhaupt. Tiefe Ruhe ist eingekehrt in Deiner Seele, Glücksklee wächst in Blumentöpfen auf dem Fensterbrett, Vorfreude wegen der noch reichlich auf uns zu kommenden Überraschungsgeschenke rankelt an der Tapete hoch. Wir schlafen ein zusammen.
Ich kenne solche Tage. Erinnerst Du Dich? Und hast Du Lust auf meine Lust? Dann wart auf mich! Es kommt was auf Dich zu. - Gott, hab ich Dich lieb. - Eva


8. Sept. 68

Geliebter Karl!

Ich bin in einer entzückenden Landschaft ausgestiegen.
Sowas findet sich nicht alle Tage:
Einerseits bizarr exotisch, andererseits bäurisch deftig.
Es ist ein frischmilchiger Frühherbsttag –
und die Gräser vorm hohen Himmel wirken wie Riesenbäume aus meinem Blickwinkel.
Ich hab mich ausgezogen und betrachte das sanfte Braun vom Sommer auf meiner Haut,
welches mit dem satten Grün kombiniert, der im Bildanschnitt ausgedienten Mähmaschine
und einer überwachsenen Heuwendegabel zusammen eine Augenweide ergibt -
wenn einer dafür einen Sinn hat.
Nebenbei bemerkt: Der Duft der Erde ist richtiggehend berauschend. Starke Momente!
Meine Gefühlswelt wallt und wogt gleich einem lebenden Gemälde aus ... ja, was hätten wir denn da:
Lianenverzweigungen, wucherndes Farnkraut, haarfeindurchsichtig fühlerartiges Blättergestrüpp.
Da wäre Wildrosenblütenfleisch im Angebot und Sumpfstengelgerangel vorrätig.
Hach, Kristallsterne aus dem Sud des Heilgiftes des Blutreizkers, Honigseim...
Heilig glückhaftes Durcheinander.
Es riecht nach Sehnsucht und Leben mit Dir.
Ein Pferd steht da, scheckig, sommersprossig, abwartend, wie für alle Fälle.
Da hinten eine Kirchturmspitze.
Ich könnte sonst was zusammenspinnen, aber es ist nun mal reiner Realismus.
'Und das da sind Wälder, das nasse Blau'. Aber keine Fahnen, weder rot, noch auf'm Bau.
Dies ist nicht die Gegend für sowas Profanes.
Pure Natur, gemischt mit einer Prise Chemie, rübergeweht von den Buna-Werken, Bitterfeld, Wolfen.
Oder ein dermaßen faules Ei stinkt irgendwo im Umkreis durch die Schale hindurch, was ich aber bezweifle.
Und Pilze brechen aus dem Boden. Eine einzige Butterschwemme im sandigen Gelb,
wie von Zauberhand hingegeschmissen in der nächsten Mulde.
'Das Korn liegt auf den Feldern, es schnappt der Hecht im Strom...'
Du in Deiner Mansarde hast jetzt keinen Gedanken frei für Evas naive Malerei,
meine scheinbar künstlich heile Welt.
Aber wärst Du hier, Du würdest aufatmen - und wir wären einer Meinung.
Bald muß ich wieder in die Stadt.
Um 18 Uhr kommen viele Leute, um sich an Elizas Freud und Leid zu ergötzen,
was wiederum mich ergötzt.
Himmlischer Vater!
Eine Kuhherde voll schön großer gleichmütiger Augen. Jetzt ist das Bild wohl doch etwas zu überladen.
Vorhin bin ich gestikulierend den Feldrain entlang geschritten als Pistache,
habe die grandios 'umgeschriebenen Veränderungen' durchgeübt, geschimpft, gesungen.
Eine Spaziergängerin mit Hund an der Leine war aus der Versenkung aufgetaucht,
ohne eine Miene zu verziehen, hatte aber in etwa folgenden Text im Denkvorgang:
Vorsicht. Nichts anmerken lassen. Notfalls rechtgeben. Vom andern Stern vielleicht. Traumtänzerin.
Ich weiß manchmal auch nicht mehr, was ich von mir halten soll. Das gibt's nicht!
Du wirst jetzt denken, das hat sie erfunden. Nein, Tatsache:
Es stolzieren edel aussehende Rebhühner durch die Diagonale. Schluß jetzt.
Grußkuß - und diverse Kombinationen davon sendet Dir Deine Wald- und Wiesenblume Marie –
und Eva lehnt sich in Gedanken an einen Paradiesapfelbaumstamm in der Chausseestraße 131...


Wolf! Ich bin in großer Unruhe.
Seit gestern abend rufe ich ununterbrochen an und erreich Dich nicht.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß, wenn Du weggehst, Dich zurückziehst, aus welchem Grund auch immer,
Du mir kein Sterbenswörtchen sagst. Du müßtest doch wissen, daß ich Höllenqualen leide.
Auch sind die Zeiten so, daß man auf alles gefaßt sein muß. Wir waren verabredet!
Mir zittern die Hände, wenn ich mir die Möglichkeiten ausmale, welche in Frage kämen im 'Ernstfall' –
für einen von Deiner Sorte.
Die Nacht konnte ich nicht schlafen. Jedes Geräusch im Treppenhaus ließ mich hochschrecken.
Auch hörte ich Knarrschritte auf'm Boden über uns, Hantieren mit Drähten, 'Rieseln im Gebälk'.
Vielleicht war es 'nur' unser 'Hausvertrauensmann' Herr Gumm, der die verkehrt gestellten Fernseh-Antennen in die richtige Richtung rückte.
Unser hauseigener Spitzel von zwei Treppen tiefer, der im Suff einen ... Beichtbedürfnisanfall erlitt und seinen 'Auftrag' gestand mit Hand-aufs-Herz- und-nicht-gelogen-Pathos, Ehrenwortgeben, daß er doch auf unserer Seite stünde, schon die Nazis hat er an der Nase rumgeführt, den Sachsenfritzen würde er sonstwas erzählen, nur nicht, daß wir Feinde sind oder westlich eingestellt, - der drückte sich heute linkisch die Wand lang, als wollt er drin verschwinden. Wie muß so ein armes Würstchen sich fühlen...
Es liegt eine ungute Atmosphäre in der Luft.
Ich hör das Gras wachsen, die Mäuse kichern, Gewisper hinter Polstertüren, Messerschärfen;
bin überhaupt hellhörig geworden wegen der letzten Gerüchte.
Melde Dich. Wenn ich unterwegs bin, hinterlass ein Zeichen, gib Nachricht durch wen auch immer.
Diese Ungewißheit ist wie ein Alptraum. Du würdest Dich doch nie so verhalten wie Nina! Die weiß noch nicht, was es bedeutet. Ihr fehlen Erfahrungen für die Folgen einer solchen ... Lieblosigkeit, gelinde ausgedrückt.
Du bist ein Mensch, der nicht nur an sich denkt, mit einem Verantwortungsgefühl -
und Du weißt, daß auch ICH in einer außergewöhnlichen Situation bin.
Warum schreib ich das alles... Gleich geht die Tür auf, Du rollst übern Teppich, Hepp! und stehn!
Wolf erzählt eine plausible Geschichte, was mit 'Räuber und Gendarm' oder 'Hans im Glück',
der seine goldene Gans eintauschte für ein mageres Suppenhuhn, warum nicht ...
Oder die Fortsetzung 'vom kleinen Herrn Moritz', der seine Glatze wieder verlor.
Warum klingelt nicht endlich das Telefon! Schlüsselgeräusche ... an der Nachbartür.
Mir ist hundeelend. Ich gehe auf die Suche nach Dir wie die EVA im Hohen Lied...


18. 12. 68

Mein einziger Liebmond unter der Sonne!
Wie Du Dir ausrechnen kannst, weilt Deine Kuschelkatze in Rostock.
Massenhaft Plakatfarbe fällt mir auf.
Das Hotel ist eins von den glattkalten Protzschuppen mit gepfefferten Preisen.
Es war doch klug und auch angenehm mit dem Zug zu fahren, vor allem, als ich draußen die weiße Landschaft sah und mild dahinziehende Nebenschwaden über mein schlaftrunkenes Mecklenburg dahinschwabbelten.
Eigentlich bräuchte ich noch nicht hier zu sein, ist nur technische Probe. Aber der Regisseur, so sagte mir die Aufnahmeleitung, wollte eine Besprechung mit mir machen. Unverschämtheit! Wie sich herausgestellte, langweilt sich der Herr, weil er angeblich keinen Schlaf findet, Nierensteine hat, einen einstmals durchbrochenen Magen und Nebenbegleiterscheinungen. Deshalb trinkt er abends Westschnaps, schimpft auf die Preise und lädt mich herablassend ein, ihm Gesellschaft zu leisten. Was der sich einbildet, dieser eitel-plattköpfige Schwätzer; ich tu mir ja so leid. Und war in der Stadt, wo vorweihnachtliches Geraschel, Knistern und Wispern in der Luft lag, muntere Geschäftigkeit. Ich kriegte Sehnsucht nach meiner Kindheit.
Hab zwei Bücher gekauft. Salinger: Neun Erzählungen. Das wir von Hussel geborgt haben. Und Kunert: 'Kramen in Fächern'. Bring ich Dir mit.
Dann war ich am Theater. Der Spielplan ist etwas mager. Ich kuck mir im 'IntimenTheater' demnächst 'Dialog mit Diderot' an. Im Kleinen Haus Pantomime.
Unser Abschied heut morgen war süß. Ich hab Dich ganz lieb. Piepiep. Eva
Grüß schön die kleine Emmamaus!




19. 12. 68

Wolflieb, vor mir seh ich die Taiga bis zum Horizont bei Greifswald.
Ich bin in einer funkelnagelneuen Wohnung im Arbeiterhotel gelandet.
Heut früh im Rostocker Fernsehstudio gabs einen mächtigen Krach mit diesem Flachkopp von Dompteur. Ich hab ihn dann schön herbe angekotzt, nachdem er mich wie ein ekliger Macker zurechtgewiesen hatte. Ein totaler Choleriker, hat sich herausgestellt. Gestern hat er noch gebuhlt, als läge ihm an nichts weiter was - und heute am liebsten die Hundepeitsche. Solche Typen beißen sich aber an mir die Zähne aus. Glücklicherweise sind die übrigen Kollegen dort sehr nett, norddeutsch, sympathisch, wie Matthias Wegehaupt - und haben mir aufmunternd zugezwinkert und Bravo gesagt.
Auf dem Weg hierher hab ich in Stralsund Station gemacht, bei Tom Beyer. Er hat sich sehr gefreut, war gerade Strohwitwer mit seinem Sohn. Ich hab mit ihnen Mittag gegessen und wir haben uns schön unterhalten. Er wünscht sich sehnlichst Deine Marx- und Engelszungen, sagte, Du hättest auf Deine Weise Glück, nämlich mit mir. Woraufhin ich sagte: Umgekehrt. Ich hab das große Los gezogen mit ihm.
Er hat mir eine Skizze geschenkt zu Weihnachten: Drei Nackte (Weiber natürlich) am Strand zwischen Baumschatten.
Unterwegs gabs Scharen von wilden Schwänen, die den Himmel verzierten. Mit ernstem Flügelschwung flogen sie nach Irgendwo.
Übrigens: Günter Kunerts neues Buch: 'Kramen in Fächern' ist sehr gut. Ich bin angetan, vertief mich abwechselnd in ihn und Salinger. Die haben Ähnlichkeiten miteinander und sind doch sehr verschieden. Verschieden im Umgang mit der Sprache - und verwandt im Aussparen von Übergängen; sie liefern keine 'runden Sachen', seine Phantasie kann man gebrauchen - ich meine, deine Phantasie, nein, meine; also kurz über lang: die eigne Vorstellungswelt liegt nicht brach, wolltisch damit sagen, das Weiterdenken wird angeregt und so weiter, Herr Gefreiter.
Hauptmann Seiboldt dagegen bläst auf dem Tornett und hat einen Pullover Norwegenmuster an. Morgen rutschen wir nach Peenemünde rüber. Manne Krug, das Miststück, steht auf dem Plakat und lässt uns sitzen: Frau Homann, mich, die Studiosusse. Seine respektable Henkeltopfnase erscheint einfach nicht auf der Bildfläche. Ich hatte mich schon ganz halbherzig auf seinen Müllerburschencharm gefreut. Wieder nichts. Na, hab ich ja noch Doktor S. zum Frozzeln.
Jetzgen legt 's Maidgen sich ins Bettgen für a Stündgen, bisses losgeiht uff de Brettgen mit de Liedgen. Wärs nich nettgen für Sein Leibgen, wenns süßsaftge Zwetschgen dem stolzgen Liebstöckelgen geständge, dasses Lagerstättgen gerne mit Ihro Begnadetgen teiltge?
Blssbleblaleblbrbrbrirr. Brbrbrbr. DIDELDUMM singt Deine Katze Mi.
Und Deine Liebe namens Eva-Mari A. gähnt ein langanhaltendes Aaaaaah. Und träumt vielleicht von Uuuus, Ööööös, Eiiiiiiiiiis und Auuuus im übernächten Moment. Tschautschaubambino.


20.12. 68 - Greifswald

Mein Traummann, es ist wieder Wachzeit. Ein klarer, sonnig kalter Morgen.
Ich treib mich noch im Bett rum und erzähl Dir schnell die Begebenheiten von gestern:
Es waren sehr viel Leute gekommen. Meist Studenten, aber auch Bauleute, Facharbeiter, Technisches Personal. Gleich umme Ecke wird ein Atomreaktor aufgestellt, das ist angeblich ein epochemachendes Unternehmen. Deswegen ist hier Bewegung in die sonst hinterm Mond lebende Stadt gekommen.
In der ersten Reihe saß Susanne und Manfred Kant. Ich war freudig überrascht und sagte wohl auch:
"Ach Susanne, wie schön", ins Mikrophon - und sah dann jede ihrer Reaktionen.
Bei "Ich hatt einen Liebsten", nickte sie mir glühend zu. Jedenfalls war der Abend ein enormer Erfolg.
Ich sang "König von Ivetot", "Dona, Dona", "Ein Weib" - und die frechen, bewährten. Jede Nuance kam an. Ich erzählte vorher immer bißchen was und war entspannt. Du hättest Deine Freude an mir gehabt und mich weinend um dieses Publikum beneidet, mein armer Schatz. Beim Duett vom 'Schäferlied' sagte ich was vom zarten Liebeswerben der Dame und dem Überbieten des Mannes. Das war ein Vergnügen:
Nach jeder Strophe spontaner Applaus.

In der Pause kamen S. und M. hinter die Bühne und auch anschließend sahen wir uns noch kurz. Sie sagten: Die ideologischen Hausierer waren in letzter Zeit viel rumgepilgert auf der Insel mit Schreibmaschinenkopien hätten Ausschnitte aus Deinem letzten erfolgreichen Werk gelesen, um die Menschen zu überzeugen, was Du für ein schamloser Spitzbube und Jugendverderber bist. Susanne hat Sehnsucht nach Dir, soll ich sagen ...
Hinterher haben wir die Gage von Manfred Krug verjubelt. Die muß hoch sein. Der Sekt schoß in Fontänen bis zum Kronleuchter; zumindest bei einer Flasche, die ein Saufaus absichtlich geschüttelt hatte.
Ein Oberstleutnant, stiller Genießer von härteren Getränken, der sich als Schirmherr dieser Veranstaltungen vorstellte, machte mir auf vielseitige Weise den Hof, tat wichtig, flüsterte mir Geheimnisse zu: In Peenemünde, wo wir nachher hinfahren, nächster Auftrittsort, sind Soldaten stationiert, die immer aufm Sprung sein müssen. Wieso das? Naja, Nordostflanke vom Warschauer Pakt, verstehste. Er war leutselig, rühmte sich, nur einen Grad unterm General zu sein. Ich glaube nicht, daß er falsch ist oder auf mich angesetzt, ein Bär von Haus aus, sinnenfreudig eben. Und ich bin ja auch nicht gerade zu verachten.
Wir werden Kriegsschiffe besichtigen. Rauf dürfen wir aber nicht.
In der Aula ist ein Konzert angekündigt. Auf Plakaten prangt der Name Biermann, klein davor Marlen. Leider.
Ruth Homann erzählte von Schwierigkeiten, die ihr Kritiker-Mann hat; bis zuletzt damals hat er den Frank-Beier-Film 'Spur der Steine' verteidigt. Seitdem sind die beiden sehr isoliert. Ruth Homann fragte mich ernstlich, ob es stimme, daß Robert Havemann Rauschgiftpartys mit Minderjährigen veranstalten würde; Du sollst auch ständiger Gast sein bei den Orgien. Ich lass bei solchem 'Hammer' dann immer nur demonstrativ die Kinnlade runterfallen, tue, als würde sie ausrasten und renke sie krachend wieder ein. Sonst kein Kommentar. Was soll man auch darauf antworten. Die Gerüchteküche brodelt. Die Verleumder haben Hochkonjunktur. Da komme ich als 'Trinkerin' nicht mit, das ist ein Klax dagegen.
Ach, ein richtig angenehmer Tag ist heut. Ich denke an Dich. Ob wir mal Schlittschuhlaufen gehn demnächst? Ich hab spiegelblanke Seen angekuckt unterwegs, mit Scharen von Kinder drauf. Ehe der Schnee fällt in Berlins Gegend, sollten wir das tun. Ich stell mir vor, wie Du da rumkurvst auf'm Lanke-See, Pirouetten drehst, den doppelten Rippenbrecher auf die Beine stellst; aber damit nicht genug, die nächste Hürde mit mehr Risiko wird genommen, der dreifache Flipflop angesteuert und batsch – fällst Du auf Deinen knackigen Allerwertesten, hihi. - Tschüß. Kuß. Ewah.


Noch

1
Ein kleiner Regen hat mich gewaschen
Am Himmel ziehn leere Brauseflaschen
Fabrikschlote wuchern drüben am Hang
Rauchnasen laufen den Windweg lang
Wälder sind das da, das nasse Blau
Das da sind Halden, das große Grau
Rot blühn paar Fahnen da auf dem Bau
Das Land ist still
Der Krieg genießt seinen Frieden
Still. Das Land ist still. Noch.

2
Die Schieferdächer schachteln sich wirr
Geklammert an Essen mit Eisengeschirr
Starrt das Antennengestrüpp nach West
Vom Sonnenball steht noch ein roter Rest
Krähen sind das da, was fällt und schreit
Blüten sind unter die Bäume geschneit
Was da jetzt einbricht, ist Dunkelheit
Das Land ist still
Wie Grabsteine stehen die Häuser
Still. Das Land ist still. Noch.


Dann hing ich im D-Zug im Fenster, und
Der Fahrtwind presste mir Wind in' Mund
Die Augen gesteinigt vom Kohlestaub
Ohren von kreischenden Rädern taub
Hörte ich schwingen im Schienenschlag
Lieder vom Frühling im roten Prag
Und die Gitarre im Kasten lag
Das Land ist still
Die Menschen noch immer wie tot
Still. Das Land ist still. Noch.




In Prag ist Pariser Kommune

In Prag ist Pariser Kommune, sie lebt noch!
Die Revolution macht sich wieder frei
Marx selber und Lenin und Rosa und Trotzki
stehen den Kommunisten bei

Der Kommunismus hält wieder im Arme
die Freiheit und macht ihr ein Kind, das lacht,
das leben wird ohne Büroelephanten
von Ausbeutung frei und Despotenmacht

Die Pharisäer, die fetten, sie zittern
und wittern die Wahrheit. Es kommt schon der Tag
Am Grunde der Moldau wandern die Steine
es liegen vier Kaiser begraben in Prag

Wir atmen wieder, Genossen. Wir lachen
die faule Traurigkeit raus aus der Brust
Mensch, wir sind stärker als Ratten und Drachen!
Und hattens vergessen und immer gewußt



Aus Wolfs Prag-Büchlein:

Das aber ist Prag:
eine glückliche Zukunft
Sie liegt hinter uns
Meine liebe Liebe
nach so viel Frühling
finden wir uns liegen
in den Wiesen aus Schnee
unter dem Gestrüpp
der Eiszapfen, gebettet
in Fröste und essen
die Früchte der Unfruchtbarkeit
Die Steine stöhnen
durch die langen Nächte
Die Flüsse gerinnen
zu Fallgruben
darin die Kunnigeskinder
versinken
Der Winter
mitten im Sommer
ist über uns gekommen
kommen aber wir
über den Winter?
Nimm du meine Gitarre
und trage sie mit dir
in Länder die keiner kennt
darin Lieder gebraucht werden
und Gedichte willkommen sind
Kommst du aber zu
lustigen Leuten, dann
singe du ihnen meine
Trauer. Den Traurigen aber
singe anderes, davon ich
dir auch mitgeben werde
Der Zorn stirbt
mit der Hoffnung
Was uns wichtig war
das vergessen wir
Das Vergessen
wird wichtig
Wir haben uns also
durchgekämpft ins Nichts
Und nichts haben wir
durchgekämpft
Der Alltag kollaboriert
mit den Mächtigen
Und das Volk formt sich
wie Erde unterm Stiefel
Wenn Regen kommt
wenn Wind kommt
wird alles anders sein
Aus Wind haben wir
Häuser gebaut
gegen den Wind
Meine liebe Liebe
Wo noch finde ich dich
die ich nie verlor
Wo noch finde ich
deine Nähe, die mir
nahe ist, denn nahe bist du
meinen Lippen:
sie schweigen ja immerzu
deinen Namen
In meiner einen Hand
halte ich die Gelassenheit
in der anderen: Ungeduld
Und nun harre ich
mit leeren Händen
auf dich, die
nicht kommen wird
Ja, als wir noch
weißhäutig durch die Tage
schwammen und Regen
schluckten und Sonne
bis die Nächte uns schluckten
– da blühte uns noch
die Unwissenheit, da
war noch Hoffnung
in den Küssen
In den Wind
halte ich die Hand
die Dachluke hoch
halte ich das Gesicht
Herbstblau und Baumwollweiße:
ein lichter Flicken im
Mantel des Verstecks
Die Wolken sehen mich
aber sie halten dicht
Wenn der Regen kommen wird
Ja, wenn der Regen da ist
bin ich längst woanders
oder ein anderer








STRATEGIE

Eins
muß man den 5 Brüdern
lassen:
Wie
sie in das Land ihres Bruders Ludwig
Freiheit einbrachen, das
war eine Glanzleistung:
Zivilflugzeuge voll
zivilen Soldaten
kaperten die Flugplätze
und sofort fielen die
geflügelten Panzerarmeen
vom Himmel herab
Eine ganze halbe Million
erstklassiger Krieger
Wenn die, oh, wenn
die
das
mit Saigon
gemacht hätten
Was
hätte dann Saigon gemacht
mit den Amerikanern ?
__________________

Teufelskreis für dieses
überfallene Land:
Die geschlagen werden
dürfen nicht
merken lassen
daß sie geschlagen werden
Sonst
werden sie geschlagen
____________________

Die Siegreichen
Kriegsknechte
zeigen ihr Gebiß
Sie schämen sich
Deshalb
zeigen sie die Zähne
Sie fürchten sich
vor ihren Frauen
in der Heimat
Sie zittern vor ihren
Eltern zuhause
deshalb grinsen sie so
in die Linse
____________________

Unsere Führer
helfen der Wahrheit
mit Hilfe von Lügen
zum Siege ?
Unsere Führer
helfen in Wahrheit
den Lügen zum Siege !


Was
richtet schon Wahrheit aus
gegen bewaffnete Lügner ?
Gegen bewaffnete
richtet die Wahrheit aus
daß sie die Wahrheit
richten müssen
_________________

Was
vermögen bissige Worte
gegen Bluthunde ?
Treffende Argumente
was vermögen sie
gegen Maschinengewehre ?
Was
schützt gepanzerte Herzen
gegen Panzer ?
Welche Gewalt
hat das Recht
gegen das Recht
der Gewalt ?
___________________

Ich bin am Rand, da
wo die Suppenesser
tote Fliegen und der
Köchin ihre Haare
hinschieben da findet ihr mich jetzt

Ich bin am Rand, da
wo die See bei Flut
Strandgut ausspuckt, da
findet ihr mich jetzt

Ich bin am Rand, da
wo die Stadt
sich ausleert :
auf den Schutthalden
wo die Kinder
glücklich sind, da
findet ihr mich jetzt
am Rande
genau : im Zentrum
des Randes
____________________

Lied für Eva und mich

1.
Ja, ich singe von Traurigkeiten
Ratlos bin ich
Und habe kein gutes Wort für euch

2.
Sagt, auf wen bloß hattet gebaut ihr
Als ihr euch selber
So gänzlich im Stiche ließet ?

3.
Ich singe euch ein neues Lied, es ist
das Ende vom Lied
Das Lied vom Ende ist es :

Seit die Fünffingrige
Konterrevolution
in Prag Prag im
Würgegriff hält
nehmen sich dort
Kommunisten das Leben
deren Leben kaum erst
begonnen hatte
Genossen, besser ist
wir bringen die Kraft auf
und leben wenigstens
so lange
bis sie uns totschlagen
müssen
___________________

Das bißchen Leben
macht sich wichtig
Komm, meine Liebe
wir wollen lieber leben
_____________________

Abends öffne ich die Fenster
und höre die Stadt:
Nichts ist
es riecht nach Frieden
Aber
wenn Motoren sich nähern
explodiert mein Hammer-Herz
______________________

Mit einem Riesenohr
peile ich die Autos :
2-Takter
4-Takter
Diesel
Spitzel fahren Trabant
Polizei fährt Wolga
Die Kommandos kommen
auf Horch H3A
Wenn die Motoren
laufen und sich
entfernen
fällt langsam wieder
Luft in mich
______________________

Die Gefahr ist groß
aber die Angst ist riesig
Die Angst, mein Lieber
ist die große Gefahr
__________________________

Kaum hatten sich die
Amerikaner
einen Namen gemacht
als Völkermörder, da
packte die Genossen in Moskau
Ehrgeiz. Jetzt
machen sie sich in Prag
und auf lange
einen Namen

 

Willkommen auf der offizielle Internetseite von Eva-Maria Hagen

  

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