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WENN ICH ERSTMAL LOSLEG ...

Lieder aus Lettland, Estland, Litauen, Finnland, Karelien ...

Deutsche Nachdichtungen: WOLF BIERMANN

COVER-TEXT der CD WENN ICH ERSTMAL LOSLEG:

Wenn ich erstmal losleg - das ist der Titel der neuen CD von Eva-Maria Hagen mit den allerschönsten alten Liedern aus den baltischen Ländern: Lettland, Litauen und Estland, aber auch aus Finnland und Schweden. - Die baltischen Länder sind nun endlich aus den Völkergefängnissen der Hitlerzeit und der Stalinzeit ausgebrochen. Sie machen wieder ihre eigene Geschichte und das bedeutet: sie erobern sich auch wieder ihre eigene Vergangenheit. Diese kleinen Länder, die immer wieder zwischen die mächtigen Machtblöcke gerieten, haben eine karge, eine lückenhafte, arme Geschichtsschreibung. Aber stattdessen haben sie mehr Lieder als vielleicht alle anderen Völker. Die Lieder sind ihr Gedächtnis - ein Gedächtnis, das sie nach all den Schlägen auf den Kopf halb verloren hatten. Nun frischen sie es auf. Wir aber hören diese Lieder und ahnen den ganzen Reichtum.
Im Laufe der Arbeit kamen immer noch neue Titel dazu, die uns entzückten und die wir unbedingt mit drin haben wollten, in unserem Liederkorb. Aber auf eine CD passt ja so schön viel drauf und das haben wir voll ausgenutzt. Alle Titel schrieb ich in sehr freier Nachdichtung nach Originalen, die Eva-Maria Hagen mir aus diversen Überlieferungen zusammengetragen hat. Manchmal blieb ich treu am Original, manchmal nahm ich nur ein originelles Motiv und machte auf eigene Faust weiter. Manchmal kippte ich auch die liedgewordenen Schablonen im Spiel der Geschlechter einfach um und verkehrte die traditionellen Fronten im sozialen Liebeskrieg zwischen Mann und Frau.
Wir fanden auch uralte Tonbandaufnahmen. Die Texte waren dabei manchmal nur bruchstückhaft zu verstehen, kein Wunder. Die Tonqualität mußte ja miserabel sein, wenn in den zwanziger oder dreißiger Jahren ein wandernder Volksliedforscher irgendeinem zahnlosen Bauernweiblein das Mikrophon unter die Nase hielt. Einige Melodien stammen aus irgendwelchen Handschriften oder vergilbten Liederbüchern. Aber die Lieder, so schön verschieden sie alle sind, eines haben sie gemein: sie sind kein vergammeltes getrocknetes Backobst, sondern reife, saftige Früchte vom Baum. Diese Frische riecht man auch in den Arrangements, wie sie Eva-Maria Hagens Pianist Siegfried Gerlich schrieb. Sie sind weder volkstümelnd geknüttert, noch flott zusammengestylt. Sie bewegen sich genau auf dem schmalen Grat von lebendiger Tradition und gediegener Modernität.
Übrigens: Meine eigenen Aufnahmen mit meinen eigenen Liedern - natürlich höre ich sie mir niemals wieder an. Diese Lieder aber sind beides: meine eigenen und doch ganz fremde. Und weil meine alte und ewig junge Freundin Eva-Maria sie so unvergesslich schön singt, kann ich mich an diesen Aufnahmen gar nicht satt hören. Und ich wage die Behauptung: Ihnen wird es ähnlich gehen.

Wolf Biermann - Altona, Februar 1996
 
 

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