Zurück zu Allerhand


Brief aus dem 1998 beim Ullstein-Verlag erschienenen Buch

EVA UND DER WOLF

Eva-Maria Hagen an Wolf Biermann während eines MANÖVERS der sozialistischen Bruderländer unter dem Namen OKTOBERSTURM, wofür sie zuammen mit anderen Künstlern der DDR von der Konzert- und Gastspiedirektion engagiert worden war, noch wenige Wochen vor dem sogenannten 11. Plenum der SED, bei dem die Kulturschaffenden gemaßregelt wurden und Wolf Biermann Auftritts- und Publikations-Verbot erhielt.
__________________________________________________________________________
21. 10. 65
Mein Liebster!
Die meiste Zeit verbringe ich damit, an Dich zu denken, denn meine Sehnsucht nach Deiner Nähe ist sehr groß, obwohl es amüsant hier ist und interessant. Schon mal Weimar. Und dann das Schloß, in dem ich wohne, mit den bunten Bäumen vor der Tür.
Reinhardsbrunn heißt es und liegt bei Friedrichsroda.
Gestern war eine Art Fest im ›Elephanten‹, da habe ich paar kesse Lieder gesungen im heiteren Teil und was fürs Herz. Im ersten Teil war ernste Kunst. Eine dicke Dame von der Oper sang mit dramatischer Gebärde eine Arie und strengte sich sehr an dabei, so daß man nicht verstand, worum es ging. Dann waren paar Knödelheinis an der Reihe; aber selbst das hättest Du besser gekonnt und man hätte was zum Lachen gehabt. Aber so ...
Da waren die Herren Chefs der Militäreinheiten sämtlicher Bruderstaaten erschienen, auch Kuba war vertreten. Man war ganz extra-ordinär freundschaftlich zum Verbindungsmann aus der Karibik, zu Fidels Bruder Raul Castro nämlich, indem er von hinten und vorn hofiert wurde. Am liebsten hätten sie ihm noch Zucker in den A...llerwertesten geblasen, aber davon hat er selbst genug.
Dann die Zivildienstleistenden: Matern, Stoph, Paul Verner, aus Halle Genosse Sindermann, einer von der Landwirtschaft, Wirtschaftsboß Sowieso und zwischen den Fronten dieser Mielke von der Staatssicherheit, den ich doch dummerweise nur für den Adjutanten von Hoffmann hielt (letzterer muß heut einen steifen Hals haben, weil er ihn nach mir verrenkte aus dem Abseits heraus, weiter weg vom Parkett, hinter Stützpfeiler und Bögen plaziert, vor Fleischeslust und Eifersucht aus allen Nähten platzend, der mich zu gern ins Fürstengemach ein Stockwerk höher kommandiert hätte, nötigenfalls vom Servierer als Betthupferl aufs Paradekissen drapieren lassen) und das kränkte den kleingerateneren Erich, glaub ich, daß ich ihn nicht einzuordnen wußte, denn der tanzte ganz bewußt nicht mit mir, während die andern nur so an mir rumzerrten. Vor allem der rumänische Armeeminister kugelte mir fast die Arme aus beim Reigen, wollte mir dauernd Kognak einflößen. Sogar als sich die alten Spanien-Kämpfer sammelten, mit Herz, Stimme und feuchten Auges der großen Zeit gedachten, schunkelte er mit seiner Buddel im Arm sinnenfreudig übers Parkett, wobei sich ein diskret torkelnder Veteran und gestandener Zecher ermannte, den aus der Reihe tanzenden Ausländer auf die Seite zog und ihm was ins Ohr reindröhnte. Admiral Waldemar hielt sich bedeckt, vielleicht ist er Antialkoholiker der hohen Verantwortung wegen, die ihm sein Amt abverlangt, oder seiner Leber zuliebe, im Gegensatz zu den Draufgängern in der Zuschauerloge, den Beobachtern der Kampfspiele.
Der ›Elephant‹ war außerdem dicht bevölkert von kräftigen, sonst nicht weiter auffälligen, in mäßig elegante Anzüge gesteckten Herren: nüchtern bis zum Stehkragen und stechenden Blicks, dem nichts entgeht. Einen der ›Schränke‹ fragte ich, ob er zur Artistengruppe gehöre, ein Kaskadeur wäre. Er lief rot an vor Freude, darüber, daß ich ihm solche Körperbeherrschtheit zutraute und man ihm seinen Job nicht ansah: Er schüttelte bedauernd den Kopf.
Der Sindermann ist doch nett. Er hatte mich nach den offiziellen Darbietungen den Krallen der militärischen Einheitsfront entrissen und den andern Hohen von der politischen Elite vorgestellt. Die wollten dann, daß ich noch mal singe für sie ganz allein, an ihrem Tisch, in greifbarer Nähe. Also gut. Ich sang erst dies und das, dann ... ›Genosse Sindermann, Ihr Steckenpferd ist die Kultur. Sie haben ein offenes Herz für die Kunst. Passen Sie auf! Ich bring was von einem Dichter unserer Zeit, den ich schätze und verehre. Mal sehn, ob Sie rauskriegen, wer gemeint ist.‹ Ich sagte ›Kunststück‹ und fing an mit: ›Wenn ich mal heiß bin ...‹
Schon am Nachmittag hatte ich damit geliebäugelt, den Genehmiger gefragt, ob was gegen einzuwenden wär. Der hat sich den Text nervenzuckend angesehn, dachte, bei der Lieben-Gott-Strophe ist das Lied zu Ende und gestattete es gönnerhaft. Dann blätterte er um, erbleichte: Nein, lieber nicht. Er blätterte noch eine Weile selbstverloren in meinem Liederbuch, rotfleckig hin- und hergerissen, wie Halbwüchsige sich Nacktfotos ansehn, konnte sich kaum losreißen. Mit einem weniger ›tendenziösen‹ Song wär er einverstanden gewesen, aber da hatte ich Bedenken wegen meiner Gitarrenbegleitung. So mußte ich auf seine Anordnung: ›Den Biermann nicht, klar?!‹ leider resignieren.
Aber nun im engsten Kreis der Regierung ... Ich sang gut, frech und unerschrocken, in mir war Mut von tausend Mann. Die Herren waren sehr sehr aufmerksam. Sie meinten wohl, es wär ein Test auf ihre Allgemeinbildung. Bei der Stelle ›Und spendier Stalin ein Bier‹ hatte sich der Raum hörbar elektrisch aufgeladen, es knisterte vor Hochspannung zwischen mir und dem Pulk und ich stellte ziemlich unterschiedliche Reaktionen fest. Sindermann sagte spontan und wie aus der Pistole geschossen: ›Biermann.‹ Und gradezu versöhnlich, vertraulich familiär: ›Natürlich unser Wölfchen, wer denn sonst.‹
Verner stampfte auf wie Rumpelstilzchen, drehte sich um die eigene Achse, giftete zähneknirschend: ›Nicht zu fassen!‹, war ein beleidigter Wurz, weil man seine Scharfmacherstimme ignorierte und ihn als positiven Verfechter der Sache nicht so ernst nahm wie er sich selbst. Und als wollte er all die aufmüpfigen Liedfetzen einfangen lassen von den Rumstehern, sah er befehlshaberisch in die Runde und schluckte schließlich verbissen die Kröte, als keines der Mitglieder der Regierung Anstalten machte, seine Gedanken in die Tat umsetzen zu lassen. Stoph lächelte gelassen, doch seine Augen waren kaltwach und beobachtend. Einer sagte jovial, ich glaube der, welchem die Wirtschaft untersteht: ›Wir sind doch keine Stalinisten.‹ Er meinte damit wohl, daß man so was ruhig laut sagen darf, ohne fürchten zu müssen, deswegen auf die Schwarze Liste zu kommen.
Alle waren angegangen, hatten Schwitznacken, eine feuchte Aussprache, redeten durcheinander und aufeinander ein, wie das in vorgerückter Stunde Männervereine zu tun pflegen, taten, als wollten sie die Welt aus’n Angeln heben; bis auf Seine Graue Eminenz und paar hager wirkende Beobachtungsposten, die blieben zugeknöpft. Die Namen konnte ich mir nicht alle merken. Es waren zu viele auf einem Haufen. Sie gaben sich tolerant, humorig, selbstgefällig. Zur letzten Strophe war ich nicht mehr gekommen, da wär ihnen auch das Lachen vergangen, wenn ich auf sächsisch gelispelt hätte: Ausweis bitte!
Mit Sindermann hab ich mich länger allein unterhalten, sagte ihm, daß ich enttäuscht wäre wegen der unterschwelligen Drohungen, dem Milchmann und Meier. Er beteuerte mit Unschuldsmiene und Bezirkssekretär-Habitus, das wäre nicht auf seinem Mist gewachsen, die Formulierung würde von Dir selbst stammen. Ein Mißverständnis also, das somit ausgeräumt ist. Dann tanzten wir, bis mich ein früherer Bekannter, besagter Schwammdrüber, besitzergreifend aus Horstis Armen riß mit seinen Hünenpranken. Er fragte, was passiert sei, ich hätte mich verändert, mein Blick sei wie weggetreten, als würd ich in andern Sphären schweben, ich bin zwar eine Traumfrau und bezaubernde Hexe, wüßte aber anscheinend nicht, wo Gott wohnt. Ich lächelte undurchschaubar, sagte: Oh doch! Da verstummte mein Freiherr irritiert und seine bereits abgebauten grauen Zellen erhielten Blutzufuhr; man sah es sinnlos zirkulieren.
Heut bin ich in Erfurt. Die großen Hotels sind für die Zivilbevölkerung gesperrt. Ein Kommandant hat zu bestimmen. Bisher waren es immer hübsch artige Kommandanten gewesen, höflich, zuvorkommend, die, wie einst bei kunstliebenden Königen, den Künstlern feine Speisen bringen ließen, Likör aus Frankreich ...
Vorhin war eine Probe, in einem Glashaus. Von der IGA (Internationale Gartenausstellung). Blätter waren noch an den Bäumen und der Wind trieb viele vor sich her. Obwohl Walter Ulbricht kommt! Also, was Du behauptest, von wegen wegfegen das Laub und von den Bäumen pflücken. Du übertreibst eben doch, ich hab mich selbst überzeugt.
Ein überforderter Verantwortlicher für heut abend, ein Oberstleutnant, hielt uns eine unverantwortliche Rede, nein, mehr eine militärische Ansprache, Befehlserteilung im Telegrammstil. Wir wurden wie Kadetten ermahnt, ja Disziplin zu wahren. Da knallte meine Hand auf’n Tisch und der Satz: Da hört sich ja doch alles auf! – gleich hinterher. Er war zusammengezuckt, als wär ein Schuß gefallen. So was Freches war ihm noch nicht vorgekommen unter den Komödianten. Und er fragte schneidend, ob er zuviel gesagt hätte. Ich antwortete: Entschieden! Schluß mit der Berichterstattung. Es dämmert schon, die Lampen brennen und ich muß mir noch mein Gesicht schön bemalen.
Ich umarme Dich wie eine Schwester, eine Mutter und ein Dutzend zärtlich bis leidenschaftlicher Geliebten. Also: ICH umarme DICH! – Eva

Reinhardsbrunn, 22. 10. 65
Na Du? Ich schreib Dir noch mal von meiner Frontbetreuungstour. Heute ist ein freier Tag, die Kampfgenossen machen Feier-Pause. Das Feuern auf imaginäre Feinde jedoch geht unverdrossen weiter.
Ich bin ums Schloß herumgegangen, habe tief ein- und ausgeatmet, verschiedenerlei Vergangenheitsbeweise und Zukunftsvisionen auf mich einwirken lassen, Verfallserscheinungen der Natur wahrgenommen und selbstverliebt mein eigenes Aufgeblühtsein empfunden, zerfließende Konturen im Wasserspiegel erblickt und ein reales Haubentaucherpärchen, bagbag, tirili. Ist das schön hier! Wir müssen unbedingt herfahren. Das ist möglich in Ausnahmefällen, hab mich erkundigt.
Gestern, das war vielleicht noch ein Theater! Sie hatten ein Aufgebot an Zittertänzerinnen und Gesangssolisten engagiert und meine Reaktion auf die Ermahnung zur Disziplin hatte groteske Folgen. Übrigens waren die Helden müder als am Vortag, hatten nicht rausgefunden aus den Betten. Um sieben sollte das Manöver laut Einsatzplan weitergehen, aber die Kampfmoral ist auch nicht mehr, was sie mal war: Schwer angenockt vom Nachtleben in der Provinz, das nach Augenzeugenberichten bis in die Früh rein ging, setzte sich der Troß, bereits vorm Angriff abgekämpft, in Bewegung. – Jedenfalls fühlte ich mich gestern verschaukelt und unter aller Sau behandelt. In einem provisorischen Nebengelaß hatte man die Unterhalter einquartiert (wie Zaungäste), von wo aus man die Speisenden, ihre sich langsam rötenden Gesichter und prall werdenden Bäuche übersehen konnte – und wo wir auf unsern Auftritt zu ebener Erde warteten.
Es war ein Streuprogramm. Weißt Du, was das ist, ein Streuprogramm? Nun, wo Spreu und Weizen nicht voneinander getrennt sind und man fressen muß, was auf’n Tisch kommt. Etwa so: die Musik spielt was zur Untermalung des Kauens und Schmatzens, zur Erbauung, für die Verdauung. Dazwischen kommt der Schleuderakt, ein Zauberer mit halbnackter Assistentin oder eine Bodennummer, die bietet den Persönlichkeiten was Appetitanregendes. Und wenn die Herrn schauen wollen, schauen sie und wenn sie essen wollen, dann nagen sie am Schenkel vom Fasan. Trotzdem waren sie gnädig, taten volksverbunden und spendeten mehr oder weniger emphatisch Applaus. Walter Ulbricht war doch nicht gekommen. Vielleicht hatte Lotte interveniert, weil sie wohl ahnte, welch Lotterleben sich hinter den feindlichen Linien, d. h. auf so traditionellen Manöverbällen abspielt – und ich nehme meine Zweifel im vorigen Brief, daß Du Dir das aus’n Fingern saugst mit dem Blätterpflücken im Falle des Erscheinens des 1. Sekretärs, mit Bedauern zurück und behaupte das Gegenteil. Wenn mich nicht alles täuscht, schmulte dafür Honecker bei meiner Darbietung vom ›Schäferduett‹ und der Ritter-Ballade vom ›Keuschheitsgürtel‹ wie ein verklemmter Mönch schräg an mir runter und vorbei ins Aus. Vielleicht war es auch nur sein Lichtdouble.
Doch vorher, wie ich da so saß, fiel mir messerscharf unsere klassenlose Gesellschaft ins Auge. Die Situation erzeugte eine Leichenkellerstimmung. Ich fühlte mich unterkühlt, wollte nach Hause, überlegte ernsthaft, was passieren würde, wenn ich meine Siebensachen greife und einfach abhaue. Meine Opposition, die dank Deiner Anstiftung reichlich Kraftfutter bekommen hat, stieg und wucherte. Ich sagte, daß ich mir wie in einem Ghetto vorkomme und die Uniform vom Nachmittag, die mit dem schmalen Denkvermögen, wußte den Begriff nur bei den Nazis anzusiedeln. Und da schoß sein DDR-Nationalbewußtsein jäh und gelb in seine Wangen. Er fühlte seinen großen Auftritt nahen und zitternd vor Lampenfieber sagte er, wir könnten auch, wenn es mir nicht paßt, den Vertrag vorzeitig lösen. Und ohne Sinn, zusammenhanglos: Wenn laut Protokoll nicht getanzt wird, wird nicht getanzt. Um 24 Uhr hat alles im Bus zu sein. Das gilt auch für Sie, Frau Hagen! Ich kriege nur meine Anweisungen ...
Oh, da war ich aber aufgebracht! Als ob ich hergekommen wär, um zu tanzen, als ob ich hingelaufen wär, um jemand zum Tanz zu bitten, als ob ich angereist war, um mir militärische Anweisungen geben zu lassen, diese womöglich noch zu befolgen. Die Dinge, die ich ihm sagte, hatten es in sich und ließen sein aufgesetztes Lächeln einfrieren; ich weiß, wie man solche Kotztypen schockt, ohne das Gesicht zu verlieren. Spiel ich Dir vor.
Dann bog der Schnitzler vom ›Schwarzen Kanal‹ ins ›Künstlerviertel‹ ein. Er hat eine Vorliebe fürs Milieu. Das luxuriöse Nachtmahl hatte ihn wülstig gemacht, redselig, aufgeräumt. Ein galanter Lüstling mit Manieren, duftwässerchen-durchtränkt, polierte Fingernägel, Höfling im engeren Ring, ein Typ, der seinen Platz in Thronnähe behauptet. Nicht zu vergessen das Dessert: Wackelpudding und Flitterhintern, feuchtglänzende Teile von Haut, Evas zwei- bis eindeutige Liedchen; zusätzlich die Führungsmannschafts-Atmosphäre hatten ihn angespitzt und ließen den Adelsherrn sich nonchalant herablassen. Wir hatten Selterswasser hingestellt gekriegt, er schmuggelte auf Kosten des Fußvolks – am laufenden Band Wodka und Kognak in die Abseite. Dann wollte er tanzen. Und zwar mit mir. Ich wollte nicht. Und nicht nur wegen der Anweisungen. Also machte der Lord auf Konversation, war eine sprechende Zeitung, quakte mit verklärtem Geheimnisträgerblick und konspirativem Froschaugenaufschlag: Achtzigtausend Mann wären die Woche über in ständiger Bewegung, das müßt man sich mal vorstellen. Wozu das, fragte ich; weiß wirklich nicht, was er meinte. Wegen der Unsummen, die da verpulvert werden, wohl nicht. Mein lieber Kokoschinski, sagte einer aus der Hintermannschaft, ein Normalverbraucher kann sich überhaupt nicht vorstellen, wieviel Metall zur Zeit auf Achse ist. Dabei ist das ein Klacks, gemessen an dem, was wir noch in der Hinterhand haben. – Karl-Eduard aber wollte sich jetzt amüsieren und sagte beschwingt: Alles zu seiner Zeit. Zum Wohle, die Damen! Und kam auf seine Kosten. Da waren alte Bekannte, versessen auf ein Wort zum Sonntag, nein, Montag, Neubewerberinnen, die was an ihm fanden; unbegreiflicherweise hat er immer tolle Frauen angezogen: Inge Keller zum Beispiel. Und das schönste Mädchen an der Schauspielschule damals. Oder Christine Laszar (aus’m Westen eingeschleust). Dann die ungarischen Charme versprühende Operetten-Diva Martha Rafael ... Gottlob sind die Geschmäcker verschieden, sonst würde jede Braut ja auch auf Dich fliegen, mein einziger Wolf. – Dann rückte der Sindermann ins Ghetto ein, um mich aufzufordern. Dem sagte ich provokativ: Tut mir leid, Väterchen Bezirkssekretär. Tanzen ist verboten (den familiären Ton kann ich mir erlauben, sein Sohn Peter war mein Filmpartner und einst schwer in mich verliebt, erinnerst Du Dich: Halle, unsere Begegnung, das Geballer an der Tür im ›Roten Roß‹. Und ich war bei denen im Garten mit Hollywood-Schaukel und Posten vor der Tür). Da nahm mich der Alte spitzbübisch-kumpelhaft an die Hand, führte mich aufs Parkett; vielleicht machte es ihn ›scharf‹. Denn wie schon der Dichter sagt: ›Keiner tut gern tun, was er tun darf‹. Als nächstes schunkelte ich mit dem Gutgenährten von der Wirtschaft durch Schall und Rauch, den sie gestern komplizenhaft zum Kulturminister ernannt hatten; kleiner interner Scherz der Herren, worauf ich mir aber keinen Reim machen konnte – und der sagte in überzeugtem Brustton, daß ich schön wäre, klug, eine sozialistische Hexe, hihi. Und das Lied von Dir gestern hätt ihm toll gefallen: ›Großartig, der Biermann, das ist unser Mann! Von seinem Schlag müßten wir mehr haben.‹ Ist das eine Aussage!? – die ich hiermit schriftlich festhalte als Beweis, wenn einer was will. Mit heißem Atem wie Strahlemann & Söhne hat er das gehaucht. Ich bin mir nicht sicher, ob er Deinet- oder meinetwegen so entzückt war. Wahrscheinlich ist es die Kombination. – Mittag hieß der begeisterte Knabe, fällt mir ein. Ob er nachmittags, wenn er nüchtern drüber nachdenkt, noch seiner Meinung ist?
Und einmal, als ich da so saß, kam ein Ober mit gewichtigem Gesicht und richtete mir aus, daß ein General mich sprechen will, ich sollte ihm unverzüglich folgen. Und was antwortet darauf eine Dame von Welt laut und vernehmlich, damit es alle angelaufenen Hälse hören? – Der Ober zog verdattert davon und hinter ihm her mit eingeklemmtem Schwanz die armselige, von mir geschundene Kreatur in Uniform, der Organisationsheini, in dem sich langsam eine Haßliebe zu mir entwickelt hatte. Kurz drauf kam der abgeblitzte General angetorkelt wie ein Tanzbär, küßte mir drollig verlegen die Hand, meinte auf mecklenburgisch, ich soll ihm mal nicht böse sein wegen der hinterwäldlerischen Manieren, er hätt schon ein bißchen übern Durst getrunken und wär auf’m Land mehr zu Hause. Ich verzieh ihm und tanzte, hörte mir seine ver(h)ehrende Rede an, in der drin vorkam: ›Bleib so wie du bist, Mädchen, so künstlich (!) und natürlich.‹ Das wäre in Ordnung und eben das Besondere an mir.
Dann funkelte der Mielke mit seinen Späheraugen mich an – ich stand mit im Kreis, wechselte hochtrabende Worte über Wetteraussichten, Hoch- und Tiefeinflüsse auf menschliche Beziehungen. Und plötzlich sagte einer seinesgleichen hinter ihm: Genosse Minister haben heute noch nicht getanzt, wollen Genosse Minister nicht tanzen? (wörtlich!) Und Genosse Minister senkte seinen Blick auf die Höhe, wo mein Busen sitzt, gab seiner Stimme einen monotonen Klang, grotesk gespielt: Ja, was will ich, will ich tanzen, will ich nicht? Würden Sie denn wollen, wenn ich will?! Er schaute auf das Goldgeflecht meiner Ballschuhe und ich herab auf seine Stiefel aus Schweineschwarten (oder war die Rinderhaut aus Büffelleder bis hoch zum Knie) und auf die vorquellenden Beuteltierhosen, Bridges genannt. – Warum nicht, sagte ich artig. Ich hätt nichts dagegen, obwohl es mir eigentlich verboten wurde. Aber Ihretwegen kann man ein Verbot ja wohl mal getrost übertreten, oder? – Er horchte auf: Was ist? Wer hat das angeordnet. Hinter meinem Rücken! Wo ist der dafür Zuständige. Hähä. Das mir! Keiner verläßt den Saal. Wenn einer was zu verbieten hat, dann ... Und er flüsterte aggressiv mit der Art Humor, ungewollt eine Karikatur auf sich selber spielend, als hätte Lubitsch eine Fortsetzung von ›Sein oder Nichtsein‹ inszeniert: Schon gewußt? Bin der Minister für Staatssicherheit. – Aha. Ja, klar, hab ich inzwischen mitgekriegt. Er wollte sogar mit mir hingehn zu der Uniform, deren Insasse sich feige verkrümelt hatte, als er merkte, daß seine Eminenz mich bevorzugte mit seiner Aufmerksamkeit. Der Sicherheitschef regte sich sogar richtig echt auf und beklagte sich bei einem seiner Vertrauten: Ist doch die Höhe! Als wär ich nicht selbst Manns genug. Unerhört, so was! Kommt einer Entmündigung gleich. Fehlt nur noch der Jagdschein. Soll ich dem Kerl einen Denkzettel verpassen, fragte er mich fuchsteufelswild und machte ein Gesicht, als wolle er auf der Stelle ein Duell ausfechten.
Ich spielte die kühle Blonde, lachte amüsiert: Das schaff ich schon allein, Genosse Minister, mich gegen solche Halbgewalten zu wehren. Er, nun fast versöhnt wieder, halb gönnerhaft, halb väterlich: Wenn Sie mal Kummer haben, Hilfe brauchen. Bin für Sie da. Ohne Spaß. Schreiben Sie. Berlin-Lichtenberg, Normannenstraße. Kommt an.
Na, ich hoffe doch, nicht in die Lage versetzt zu werden, Ihre Dienstzeit in Anspruch nehmen zu müssen, verehrter Herr Minister. Ich bin ein legitimes Kind der Deutschen Demokratischen Republik, was soll mir da passieren. – Und meine Rüschen raschelten. – Wo ich wohne? Prenzlauer Berg. – Wo genau! – Zelterstraße. – Nummer! – Sechs.
Er hielt meine rechte Hand unter seine Augen, als hätte er Lupen statt Pupillen. Nein, kein Ehering, nur einer mit Brillanten. Er lächelte kindlich, gleichzeitig verschlagen. ›Ein Zwitterwesen‹, kam’s mir in den Sinn, ›was fürn mickriger Mephisto.‹ Und dachte, als ich seine auf der Stirn vorquellenden Gedanken las: Mach mir bloß kein’ Ärger. Erspar dir eine Niederlage. Deine dir unterstellten Arbeitsbienen schwärmen rum und registrieren jedes Wimpernzucken. Womöglich stechen sie mich hinterrücks, wenn ich durch eine enge Gasse muß. Doch dicht an meinem Ohr summt er die Melodie vom Tango mit.
Mit einem Ruck ward mir bewußt: Mensch, Eva-Marie, das ist kein Film, keine Kamera läuft, kein Schienenwagen wird geschoben, die Lampen sind normale Festtagsbeleuchtung, keine Klappe wird geschlagen, Regieanweisungen sind nicht zu vernehmen, niemand verlangt eine Wiederholung der Einstellung, völlig auf sich gestellt ist die Darstellerin in dieser, ihrer eigenen, vom wahren Leben auf sie übertragenen Rolle. Und kein Niemand nicht wird jemals sehen, wie gut ich war in dem Streifen ›Oktobersturm‹.
Die Mitternacht war längst vorüber; ich wollte ins Bett. Die übriggebliebenen Herbststürmer aber hingen windschief an den Tanzmäusen, Chordamen, Schnulzen-Sängerinnen, redeten ihnen ein, was für berückende Künstlerinnen sie seien. Und überhaupt: Was ist das Leben ohne Wein, Weib und Gesang. Nichts! Das stimmt.
Ich saß da mit überklarem Kopf, registrierte all das besser als die graumelierten Anzüge, die in den Ecken rumstanden, vor und hinter allen Türen, Schaufensterpuppen, gut durchtrainierte Mittelmaßtypen. Sie hatten keinen auffällig-unbeteiligten Blick mehr, schauten männlich interessiert auf nacktes Fleisch wie Schulterstücke, Brustansätze, Kniebein, Waden, Haxen, aßen von den Resten, die noch reichlich dalagen auf’m kalten Büfett: Aal in Aspik und geräuchert, gefüllte Teigtaschen, Hühnerkeule, bunte Happen.
Und sehnte mich mit einer so unbeschreiblichen Macht in die Arme meines Liebsten oder wenigstens in seine Nähe. Nach Deinem Kirschmund hatte ich Hunger, Drachentöter, Deinen Tönen wollte ich lauschen, Minnesänger, Deine Stimme trinken, Troubadour. Denn nach Deinen himmlisch-irdischen Liedern bin ich süchtig und fast krank vor Sehnsucht. – Das Schloß und Drumherum hat mich versöhnt. Die Sonne und der Himmel haben mich umschmeichelt. Die herrlich bunten Herbstfarben strahlen eine geradezu magische Kraft aus und haben sie einfach auf mich übertragen. Ich will Dir immer abgeben von meinen Schätzen, Dich erheitern, Dir erzählen von Zwergen, Greisen, Weibsbildern, Wichtelmännern, kuriosen Nebensächlichkeiten. Ich freue mich auf Dich, lieber Wolf! – Eva
______________________
11. Plenum des ZK der SED
Vom 16.-18. Dezember 1965 tagt das 11. Plenum, dessen Folgen „Kahlschlag“
genannt werden. Während dieses Plenums kommt es zu einer öffentlichen
Anprangerung der Künstler Wolf Biermann, Manfred Bieler, Werner Bräunig,
Peter Hacks, Günter Kunert, Heiner Müller, Volker Braun und Stefan Heym.
Die Partei spricht von „modernistischen“, „skeptizistischen“, „anarchistischen“,
„nihilistischen“, „liberalistischen“, „pornographischen“ Strömungen
in der aktuellen DDR-Literatur, in Film und Jugendkultur. Die Künstler hätten
mit ihren Werken falsche Vorbilder geschaffen und wären damit für den Wertezerfall
unter den Jugendlichen (lange Haare, Beat-Musik) verantwortlich.
Diverse Filme und Bücher werden verboten und die Künstler abgestraft.


Archiv |  Kontakt  |  Shop |  Impressum | 

Inhaltsverzeichnis