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Rossija. Subjektive Miniaturen

...Moskau, Kreml, Roter Platz - das waren Worte, Bilder, die uns Kindern Angst einflößten. Bitterkalt war es dort, die Menschen arm und vom Kommunismus gezeichnet. In langen grauen Schlangen standen sie vor halbleeren Geschäften genauso an wie vor dem Leninmausoleum. Russische Frauen schienen wenig weibliches an sich zu haben. Sie waren meistens dick - wahrscheinlich weil es dort fast nur Kartoffeln zu essen gab -, trugen Wattejacken und verrichteten für den Aufbau des Sozialismus oft schwere Männerarbeit als Kranführerinnen, Traktoristinnen oder im Straßenbau. Im Winter hatten sie dicke Wolltücher um den Kopf gewickelt.

..."Ab nach Sibirien!" war auch so ein Satz, der Angst machte. Dieses Land mit seinen unendlichen Weiten schien alles zu schlucken. Ob Napoleons Truppen oder Hitlers Wehrmacht, hier war noch jeder Eroberungsfeldzug zu seinem verdienten Stillstand gekommen, wenn der russische Winter erbarmungslos zuschlug. In Rußland gab es Wölfe, und im Kreml regierten starre Greise, die auf dem Roten Platz riesige Waffenparaden mit roten Fahnen an sich vorüberziehen ließen, wobei sie sich selbst applaudierten und den bestellten jubelnden Menschenmassen frostig zuwinkten. Breschnew mit seinen zusammengewachsenen dichten schwarzen Augenbrauen war wohl für viele Menschen in Westdeutschland das Symbol für "Moskau", "Rußland", "Sowjetunion" und "Kommunismus". Worte, die zu Zeiten des Kalten Krieges in der Bundesrepublik nahezu gleichbedeutend waren.

...In den sechziger Jahren lebte mein Onkel Alois Mertes, der im diplomatischen Dienst tätig war, zusammen mit Tante Hiltrud - der Schwester meiner Mutter - und den Kindern, meinen Vettern und meiner Cousine, in Moskau. Ab und zu schrieb er uns, wir bewunderten die großen bunten Briefmarken mit den Kosmonauten und der ersten Frau im Weltraum und schauten fasziniert auf die kyrillische Schrift. Meine Eltern erzählten uns, wie schwer es mein Onkel und meine Tante in ihrer Moskauer Diplomatenwohnung hatten. Überall waren Abhöranlagen installiert, und wenn die beiden etwas Wichtiges miteinander zu besprechen hatten, so ging das entweder nur im Freien oder im Badezimmer bei laufender Dusche. Ein- oder zweimal im Jahr kamen sie nach Deutschland, mein Onkel brachte mir russische Münzen mit, und meine Vettern erzählten von ihrem Alltag in Moskau. Alles wirkte unheimlich, abenteuerlich und faszinierend zugleich. Wie auf einem fremden Planeten.

...Eigentlich wurde in unserer Familie gar nicht so selten von Rußland gesprochen. Und dabei gab es einen Unterschied zwischen dem schrecklichen unmenschlichen kommunistischen System und dem russischen Volk, das von ihm unterdrückt wurde. In einer Mischung von Mitleid und Bewunderung erzählte uns meine Mutter viel von den unendlichen Leiden, die dieses Volk in seiner Geschichte schon hatte durchmachen müssen: Damals unter den Zaren, dann unter den Kommunisten und schließlich im Krieg, den wir Deutschen angefangen hatten. Die "unendliche Leidensfähigkeit des russischen Volkes" war in unserer Familie schon fast ein Topos. Meine Mutter erzählte uns von der Zärtlichkeit in den russischen Redewendungen: "Mütterchen Rußland", "Väterchen Frost" und wie die russischen Nachnamen gebildet werden: "Iwan Iwanowitsch".

...Das Wichtigste aber, was uns aller Angst vor "den Russen", vor "Moskau" und "der Sowjetunion" zum Trotz ein anderes Bild vom russischen Volk vermittelte, das waren die wunderschönen russischen Lieder. Diese Lieder schienen die ganze Weite, die ganze schwermütige Zärtlichkeit dieses riesigen Landes und seiner Menschen zu enthalten. Nichts hat mein Verhältnis zu Rußland nachhaltiger bestimmt als die herzzerreißend schönen russischen Volkslieder.

...Ende der siebziger Jahre veröffentlichte Eva-Maria Hagen eine Platte mit russischen Liedern und Zigeunerromanzen, die Wolf Biermann ins Deutsche übertragen hatte. Ich kaufte sie mir sofort, und bis heute ist sie eine meiner Lieblingsplatten geblieben. Auf der Plattenhülle schrieb Biermann sinngemäß, wie wichtig es sei, in Zeiten des Kalten Krieges ein anderes Bild von Rußland und seinen Menschen zu vermitteln, und dazu könnten diese Lieder einen wichtigen Beitrag leisten. Ein Lied mit dem Titel "Rußland" ging mir besonders ins Gemüt. Es beginnt mit den Worten: "Ach mein Land, mein Rußland, weites Land. Steppen, Steppen, die ich sah." Als ich dieses Lied hörte, da wußte ich, daß ich irgendwann einmal in meinem Leben nach Rußland fahren würde. - Zwei oder drei Jahre später hörte ich im Radio ein Konzert von Wolf Biermann und Eva-Maria Hagen. Es begann mit einem Lied von Bulat Okudjawa, das Biermann ins Deutsche gebracht hatte: A kak perwaja ljubow. "Ach, die erste Liebe macht das Herz mächtig schwach." Ich probierte solange auf der Gitarre herum, bis ich es spielen konnte. An einer Stelle in diesem Konzert sagte Biermann: "Wenn man manche Lieder so wörtlich übersetzen würde, wie sie im Russischen sind, dann würden die kaltschnäuzigen Leute im Westen nur blöde grinsen."

...Der Krieg. In der Schule lernten wir so gut wie nichts darüber. Auch in dem humanistischen Gymnasium, wo ich 1973 Abitur machte, hörte die Geschichte merkwürdigerweise kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf. Über den I. Weltkrieg, die Weimarer Republik, Hitlers Machtergreifung, den Nationalsozialismus, den II. Weltkrieg und die Ausrottung der Juden hörten wir fast nichts. Dies war nicht nur in unserem Gymnasium so, sondern entsprach offenbar der Generallinie westdeutscher Kultusbürokratie. Wenn ich etwas vom Zweiten Weltkrieg erfuhr, wenn mir jemand erzählte, daß wir Deutschen ihn angefangen und damit große Schuld gegenüber unseren Nachbarvölkern auf uns geladen hatten, dann vermittelten mir das meine Eltern. Daß es sich beim Krieg gegen die Sowjetunion jedoch um einen Vernichtungsfeldzug gehandelt hatte, in dem noch nicht einmal die ‚normalen' Regeln der Kriegsführung galten, daß es das Ziel der Nazis war, die slawischen Völker größtenteils auszurotten und den Rest zu versklaven, daß von den Deutschen allein auf dem Gebiet Weißrußlands Hunderte von Konzentrationslagern errichtet wurden, das alles erfuhr ich erst Mitte der achtziger Jahre.

...Mein Großvater - der Vater meiner Mutter (Jahrgang 1891) - war in beiden Kriegen in Rußland. Im I. Weltkrieg als Sanitätsoffizier und im II. Weltkrieg als Chefarzt und Leiter eines Lazaretts. Mein Großvater, ein hochgebildeter kultivierter Mann, Facharzt für Inneres und Leiter eines katholischen Krankenhauses in Saarbrücken, war kein Nazi. Ein Widerstandskämpfer war er nicht, ich glaube aber, daß er und seine Frau dem Regime gegenüber soweit auf Distanz gingen wie das damals möglich war, ohne sich und die Familie zu gefährden. Aber er war in beiden Kriegen in Rußland als Soldat. Wo ist er dort genau gewesen? Was hat er erlebt? Was hat er gewußt von den deutschen Greueltaten an und hinter der Front? "Wir haben schreckliche Dinge gesehen. Ich möchte nicht mehr leben." Diesen Satz berichtete meine Mutter von ihm. Er muß auch oft von Rußland, vom Krieg erzählt haben. Was hat er genau berichtet? Wie weit ging er dabei ins Detail? Was wissen meine Tanten noch von seinen Erzählungen? Es existieren noch Aufzeichnungen und Fotos, die mein Großvater in Rußland gemacht hat. Warum habe ich, Jahrgang 1954, mich eigentlich bisher für alles kaum interessiert?

Warum bin ich, der Enkel, bis heute - Frühjahr 1998 - nie auf die Idee gekommen, mir Gedanken darüber zu machen, wo mein Großvater genau in Rußland gewesen ist, was er dort getan und erlebt hat, was und wie er später darüber berichtet hat? Obwohl doch in unserer Familie - im Gegensatz zu sehr vielen anderen - darüber gesprochen wurde! Warum habe ich mir Großvaters Aufzeichnungen aus Rußland noch nicht geben lassen, obwohl sie doch in meiner Familie erhältlich sind? Warum habe ich mir die Fotos nicht angesehen?

Und - noch merkwürdiger - warum habe ich, obwohl ich vor zehn Jahren mit einer christlichen Friedensgruppe selbst eine Friedens- und Versöhnungsfahrt nach Weißrußland unternommen, die Gedenkstätten dort besucht und mit Menschen gesprochen habe, warum habe ich die einfache und nächstliegende Gedankenverbindung nicht gezogen, daß mein Großvater im I. Weltkrieg auch in Weißrußland war? Warum fällt mir das erst zehn Jahre später auf?

Woher kommen diese Denkblockaden?

Ich werde anfangen, Fragen zu stellen.

Hinweis:
Diese Texte sind erschienen in dem Buch "Deutschlandbilder in der GUS. Szenische Erkundungen in Rußland und Kasachstan." von Leo Ensel
BIS-Verlag, Oldenburg 2001
ISBN: 3814207769
Es ist zu beziehen über: verlag@bis.uni-oldenburg.de

Dr. Leo Ensel[D]





 



 



 


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